Der Befreiungstheologe Gustavo Gutiérrez ist tot
23. Oktober 2024Wenn in 50 Jahren gefragt wird, wer die katholische Theologie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts maßgeblich beeinflusste, wird sicher auch der Name eines Peruaners fallen: Gustavo Gutiérrez; Vater der Theologie der Befreiung. Er nahm sich die krasse Not des Volkes zu Herzen. Damit wurde er zum wichtigsten Theologen Lateinamerikas im 20. Jahrhundert.
Andere Namen wie die der Gebrüder Boff sind populärer. Doch auch deren Werke basieren auf dem systematischen Entwurf jenes Vordenkers, der die Verarmung weiter Teile der Bevölkerung Lateinamerikas theologisch ernst nahm. 1971 erschien Gutiérrez' Buch "Theologie der Befreiung", das der gesamten Bewegung den Namen gab und weltweit gelesen wurde. Das Werk formulierte den Vorrang des konkreten praktischen Lebens vor der theologischen Reflexion. Es sah Arme und Unterdrückte als erste Adressaten des Evangeliums. Und "Nächstenliebe" war für Gutiérrez immer mit "Gerechtigkeit" verbunden.
Die "Rede von Gott" aus der Sicht der Armen
In einem langen Podiumsgespräch an der angesehenen Notre-Dame-Universität im US-Bundesstaat Indiana erläuterte Gutiérrez 2016 die Entstehung der Befreiungstheologie. Das Zweite Vatikanische Konzil von 1962-65, an dessen letzter Sitzungsperiode er als Beobachter teilnahm, habe es möglich gemacht, dass neue Theologien entstanden seien. Die politische Theologie in Europa, die "Black Theology" in den USA, die Befreiungstheologie in Lateinamerika. Bis dahin sei Theologie stets von Europa und den USA geprägt gewesen. Dagegen habe die Befreiungstheologie die "Rede von Gott" in Lateinamerika, aber auch in Afrika und Asien verortet. Die "Rede von Gott" aus der Sicht der Armen.
Zur kirchlichen Verkündigung gehörte für den "Kleine-Leute-Priester" das Engagement gegen die Siegergeschichte, die sich an Geld und Macht orientiert. Allerdings war es zu seinen aktivsten Zeiten noch als klassenkämpferisch verschrien, die Finanzmärkte wegen ihrer Auswüchse als "Monster" zu titulieren. Guiterrez musste sich sogar aus "seiner" Kirche vorwerfen lassen, er vertrete marxistische Theorien. Heute gehört eine entsprechende Wortwahl zum Sprachschatz von Papst Franziskus, der aus Südamerika stammt.
Gutiérrez' Ansatz war es, die Lage der Armen und Ausgegrenzten ebenso wie die pastorale Praxis der Kirche "realitäts- und evangeliumsgemäß zu reflektieren". In den 50er und 60er Jahren wuchs die krasse Verarmung weiter Teile der Bevölkerung.
"Wie den Armen sagen 'Gott liebt Euch'? Das ist für unsere heutige Welt die bedeutendste Frage. Unmöglich, sie zu beantworten. Aber zur Antwort gehört, mit den Armen zu leben, einer von ihnen zu werden", betonte er einmal. Wo auch immer er lehrte - häufig kehrte er heim nach Peru in die Armenviertel. Dort war Gutiérrez zu Hause. Seine Stärke war nicht eine weltweite Vernetzung der Theologie, sondern ihre Verortung bei den Menschen der Slums Lateinamerikas.
Dutzende Ehrendoktor-Titel
Für den Peruaner kam Theologie, so gesellschaftskritisch sie sein mochte, stets "aus dem Herzen der Kirche". Und war zugleich "Antwort auf gesellschaftliche Wirklichkeit". Gutiérrez stand zu Zweifeln. Er hatte die Größe, knapp 20 Jahre nach dem ersten Erscheinen seiner "Theologie der Befreiung" eine neue, in Teilen "revidierte und korrigierte" Version dieses Stücks theologischer Weltliteratur zu veröffentlichen. Bezeichnend, dass die Glaubenshüter im Vatikan das Werk des Theologen lange Zeit kritisch beäugten. Stattdessen machten ihn im Laufe der Zeit dutzende Universitäten weltweit zum Ehrendoktor.
Der persönliche Lebensweg von Gutiérrez war nicht untypisch für seine Arbeit. Zunächst studierte der junge Mann, der als Jugendlicher wegen einer Erkrankung mehrere Jahre an den Rollstuhl gefesselt war Medizin, dann im belgischen Löwen und im französischen Lyon Psychologie, Philosophie - und Theologie. Der Entschluss zum Priestertum reifte allmählich.
Erst seit knapp 25 Jahren war Gutiérrez Dominikaner-Mönch; der Orden bot ihm damals Schutz gegen Vorgaben aus dem Heimatbistum, dessen Opus-Dei-Erzbischof ihn mit kirchlicher Macht angreifen wollte.
Eines unterschied den bescheidenen älteren Herrn mit dem markanten, oft lächelnden Gesicht von den meisten europäischen Theologen: Seine wissenschaftliche Arbeit ging immer mit der Nähe zur sogenannten Basis einher. So sehr Gutiérrez forschte, so gern war er bei den Menschen in den Slum-Vierteln. Das System der "Basisgemeinde" stammte als Idee von Gutiérrez und lebt heute in Lateinamerika zigtausendfach.
Am Abend des 13. März 2013 wurde im Konklave der Argentinier Jorge Mario Bergoglio zum Oberhaupt der katholischen Kirche gewählt und trat als Papst Franziskus auf die Loggia des Petersdoms. Zu jenen, die an diesem Abend auf dem Petersplatz waren, zählte Gutiérrez. Und er zeigte sich glücklich über diese Papstwahl. Einige Monate später, im September 2013, feierten sie gemeinsam in der Kapelle des vatikanischen Gästehauses eine Messe; der Papst und der Theologe - der Argentinier und der Peruaner.
Zwei Jahre später, im Mai 2015, saß Gutiérrez offiziell bei einer Pressekonferenz im vatikanischen Pressesaal auf dem Podium und war im Anschluss einer der Hauptredner einer internationalen Tagung von "Caritas international" im Vatikan. Als Rehabilitierung, sagte er damals, wolle er das nicht verstanden wissen. Die Befreiungstheologie als solche sei von Rom ja nie verurteilt worden, auch wenn es kritische Dialoge gegeben habe. Wenn man von Rehabilitierung reden wolle, dann stehe seine Mitwirkung für eine "Rehabilitierung des Evangeliums".