Der Fall Varhelyi: Orbans Mann in Brüssel
7. Juni 2022Ungarns Premier Viktor Orban hat die Europäische Union gerade wieder einmal gedemütigt. In der Debatte um das sechste antirussische Sanktionspaket der EU drohte er mit einem Veto, falls der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche, Kyrill, nicht von der Sanktionsliste gestrichen werde. Brüssel gab Orbans Forderung nach, um das Paket schnell zu verabschieden - obwohl Kyrill ein ausgewiesener Kriegstreiber ist und bereits Rufe laut werden, ihn wegen der Unterstützung von russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine anzuklagen.
Schon seit Jahren führt Orban die EU auf diese Art und Weise vor. Häufig sorgt er dabei für europaweite Empörung - so wie aktuell mit seiner Putin-freundlichen Haltung. Doch ein Bereich, in dem Orban nahezu unbeachtet agiert, ist die EU-Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik. Ungarn hat das dafür zuständige Ressort, eines der wichtigen in der EU-Kommission, 2019 erhalten. Geführt wird es von Oliver Varhelyi. Der 50-jährige Jurist, Diplomat und langjährige Orban-Vertraute gibt sich nach außen hin als loyaler EU-Kommissar. Tatsächlich jedoch agiert er als Erfüllungsgehilfe von Orbans Vorstellungen über Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik.
Orbans Strategiespiele
Ungarns Premier ist einer der nachdrücklichsten Verfechter eines schnellen EU-Beitritts der Westbalkan-Länder. Ihn verbinden freundschaftliche Beziehungen mit den Autokraten der Region, darunter vor allem mit dem serbischen Staatspräsidenten Aleksandar Vucic. Der gemeinsame Nenner: An echten Rechtsstaatsreformen und einer Demokratie, die diesen Namen verdient, ist man nicht interessiert. Wenn lediglich formal reformorientierte Westbalkan-Länder wie Serbien schnell EU-Mitglieder werden würden, so Orbans Kalkül, würde das seine eigene Position in der EU stärken und seine Gegner in Brüssel schwächen.
Bislang war diese Erweiterungspolitik von Orban und seinem Vertrauten Varhelyi kein Thema für eine breitere europäische Öffentlichkeit. Denn ein realistisches Erweiterungsszenario ist in den vergangenen Jahren immer mehr in die Ferne gerückt. Damit schienen auch Orbans Strategiespiele in der Westbalkan-Region zwar ein Ärgernis, aber nicht von größerem Belang zu sein.
Lob für autoritäre Staatsführer
Doch das könnte sich durch Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine ändern. Der Kreml verfolgt in einigen Westbalkan-Ländern seit langem eine destruktive und destabilisierende Politik. Die Furcht vor einer gewaltsamen Eskalation in der Region haben die EU und vor allem die deutsche Diplomatie nun veranlasst, sich den Westbalkan-Ländern wieder mehr zuzuwenden. Die deutschen Ministerinnen Annalena Baerbock und Christine Lambrecht waren in den vergangenen Wochen bereits zu Besuch in der Region, in dieser Woche wird der Bundeskanzler folgen. Mehr Aufmerksamkeit, neue Kooperationen, eine Unterstützung echter Reformpolitik und ihrer Vertreter, Initiativen gegen Nationalismus und Separatismus, so die Idee, sollen verhindern, dass die Westbalkan-Länder von der EU wegdriften.
Doch damit steuert die deutsche Diplomatie auf eine Konfrontation mit Orbans Westbalkan-Politik und dem Agieren seines Vertrauten Oliver Varhelyi zu. Kritik an mangelnden Reformen in der Region ist vom EU-Erweiterungskommissar nicht zu hören. Im Gegenteil: Varhelyi lobt autoritäre Führer wie Serbiens Vucic oder seinen montenegrinischen Kollegen Milo Djukanovic für ihre vermeintlich gelungene EU-Integrationspolitik. Mitunter wirkt der Erweiterungskommissar wie ein Lobbyist der Westbalkan-Potentaten.
Kritik systematisch entschärft
Ein EU-Mitarbeiter aus Varhelyis Umfeld, der ungenannt bleiben will, sagt der DW, dass insbesondere Kritik an Serbien vom Erweiterungskommissar und seinem Kabinett in den vergangenen Jahren systematisch entschärft worden sei. Dabei geht es um die sogenannten EU-Fortschrittsberichte, die in Brüssel regelmäßig über die Beitrittskandidaten erstellt werden. "Kritische Aussagen, beispielsweise zur Medienfreiheit in Serbien, wurden aus unseren Gutachten gestrichen, schlechte Bewertungen in bessere umgewandelt", sagt der EU-Mitarbeiter.
Insgesamt sei der Fokus von politischen Kriterien wie Rechtsstaatlichkeit weggenommen und mehr auf Themen wie Investitionspolitik verschoben worden. Statt zu untersuchen, welche Reformen tatsächlich umgesetzt worden seien, habe Varhelyis Kabinett vielfach aufgezählt, was Beitrittskandidaten formal und legislativ geleistet hätten. "Man kann deshalb durchaus sagen, dass der Erweiterungskommissar der verlängerte Arm von Orban in der EU-Kommission ist", sagt der EU-Mitarbeiter.
Kein Maulwurf
Diese Diagnose bestätigt auch ein Politikberater, der bei der EU in Brüssel seit langem als Westbalkan-Experte tätig ist und ebenfalls nicht genannt werden will. "Varhelyi ist kein Maulwurf", sagt er der DW. "Er versteckt sich nicht, sondern macht offen und ganz direkt Orbans Politik in der EU-Kommission." Viola von Cramon, grüne Abgeordnete des Europaparlaments, äußert eine ähnliche Kritik am Erweiterungskommissar: "Varhelyi geht ganz offen auf jene Akteure in der Westbalkan-Region zu, die eindeutig keine Demokraten sind, die Orban aber für seine Politik braucht", sagt sie der DW.
Von Cramon war zu Jahresanfang Mitinitiatorin eines Protestbriefes von 30 EU-Parlamentariern an die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Sie forderten darin eine EU-interne Untersuchung von Varhelyis Aktivitäten. Anlass war ein kontroverser Alleingang des Erweiterungskommissars mit dem politischen Führer der bosnischen Serben, Milorad Dodik, der Mitglied im dreiköpfigen bosnischen Staatspräsidium ist. Dodik stellt die Existenz des Staates Bosnien und Herzegowina seit Jahren in Frage und droht immer wieder mit der Abspaltung des serbischen Landesteils, der Republika Srpska. Varhelyi hatte mit Dodik Ende vergangenen Jahres offenbar Absprachen über den Zeitpunkt separatistischer Initiativen der bosnischen Serben getroffen.
Nicht gegen die Interessen Ungarns
Doch der Protest der EU-Parlamentarier dagegen verpuffte - Ursula von der Leyen antwortete nicht auf den Brief. "Sie wäre ohne Orbans Unterstützung nicht Präsidentin der Kommission geworden", sagt Viola von Cramon. "Deshalb wohl dieses Wegducken als Strategie, Probleme zu lösen. Ich denke jedenfalls, man hätte das Erweiterungsportfolio niemals an Orban vergeben dürfen."
Ungarns Premier lässt allerdings keinen Zweifel daran, dass er die EU-Erweiterungspolitik auch künftig maßgeblich mitgestalten - oder sie notfalls blockieren will. "Berlin und Brüssel können keine Balkanpolitik gegen die Ungarn machen, aber nicht einmal ohne sie", sagte er Mitte Februar in einer programmatischen Rede. "Wir akzeptieren keine Brüsseler Entscheidungen, die den Interessen Ungarns entgegengesetzt sind."