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Der Friedenspreis in Zeiten des Krieges

18. Oktober 2001

Jürgen Habermas wurde am Sonntag mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt. Der Wissenschaftler ist als ein engagierter und kritischer Zeitgenosse bekannt.

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Jürgen Habermas, Jahrgang 1929, bekommt den Preis für sein Lebenswerk verliehenBild: AP

Jürgen Habermas ist der 52. Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Er erhielt die renommierte, mit 25.000 Mark dotierte Auszeichnung als Anerkennung seiner weltweit geschätzten Gesellschaftstheorie, die die Tradition kritischer Aufklärung fortführe und Freiheit und Gerechtigkeit als Kern der Demokratie herausstelle, hieß es in der Jury-Begründung.

Preis-Rede

In seiner Preis-Rede beschäftigte sich Jürgen Habermas mit dem Spannungsverhältnis zwischen Wissen und Glauben. Wie sehr dieses noch bestünde, zeige die aktuelle Auseinandersetzung um den islamisch begründeten Terrorismus und auch die Gentechnik-Debatte.

Für die weitgehend säkularisierten Gesellschaften sei es vernünftig, "von der Religion Abstand zu halten, ohne sich deren Perspektive ganz zu verschließen". Wolle sich der Westen nicht von "wichtigen Ressourcen der Sinnstiftung abschneiden", müsse er sich "ein Gespür für die Artikulationskraft religiöser Sprachen bewahren".

Nach Ansicht des Philosophen ist am 11. September beim Angriff auf die "kapitalistischen Zitadellen der westlichen Zivilisation" die Spannung zwischen säkularer Gesellschaft und Religion "explodiert". Auch das Abendland habe die von der Säkularisierung hinterlassenen Probleme noch nicht gelöst. Die Wissenschaft selbst könne auf moralische Fragestellungen, wie sie sich zum Beispiel durch die Gentechnologie stellen, keine Handlungsanweisung geben.

Nach dem brillanten Vortrag erhob sich das Publikum in der Frankfurter Paulskirche und applaudierte im Stehen. Unter den Gratulanten befand sich viel Prominenz, darunter Bundespräsident Johannes Rau, Bundeskanzler Gerhard Schröder und Außenminister Joschka Fischer.

Laudatio

Jan Philipp Reemtsma, Leiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung, hatte den kritischen Denker in einer differenzierten Laudatio gewürdigt. Habermas' Werke böten eine "komplexe Diagnose der Chancen und Risiken" unserer Zeit.

Immer wieder habe sich der kritische Intellektuelle in politischen Debatten engagiert. Das reiche von der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in der frühen Bundesrepublik bis hin zu aktuellen Themen der modernen Gesellschaft.

Der Kommunikationstheoretiker war mit Spannung von Journalisten auf der Buchmesse erwartet worden. Zu den Militärschlägen der USA äußerte er sich zurückhaltend: Ob diese zu diesem Zeitpunkt klug wären, halte er für schwer zu beurteilen. Der weltweit - bis in die Volksrepublik China - geschätzte Philosoph fordert einen neuen Dialog mit den islamischen Ländern: "Da ist mehr Glaubwürdigkeit von unserer Seite nötig."

Zur Person

Jürgen Habermas hat den gesellschaftlichen Diskurs in der Bundesrepublik in den letzten Jahrzehnten wesentlich mitbestimmt. Er gilt als Vordenker der Studentenbewegung, dem allerdings jegliches totalitäre Denken immer fern lag.

Seine geistige Heimat fand der gebürtige Düsseldorfer in der von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer begründeten Frankfurter Schule. Immer wiederkehrende Motive in seinen Schriften, darunter sein 1981 erschienenes Hauptwerk "Theorie des kommunikativen Handelns", sind herrschaftsfreie Kommunikation, die Bildung staatlicher Macht an öffentlichen Meinungs- und Willensbildungsprozessen sowie die Zivilisierung der politischen Herrschaft.

Die "Kritische Theorie" Horkheimers und Adornos bestimmte seine Denkrichtung. So wandte er sich zum Beispiel Mitte der 80er Jahre im Historikerstreit gegen die "Relativierung" der NS-Verbrechen.

Von 1955 bis 1959 war Habermas am Frankfurter Institut für Sozialforschung tätig, und später als Professor für Soziologie und Philosophie an der Universität. Dort wurde er 1994 emeritiert.

Heute lebt er in Starnberg, wo er zwischenzeitlich Direktor des Max-Planck-Instituts für Sozialwissenschaften war.

Der Preis

Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels wird seit 1950 vergeben und ist eine der bedeutendsten Auszeichnungen in Deutschland.

Mit dem Preis werden Persönlichkeiten aus dem In- oder Ausland geehrt, die vor allem auf den Gebieten Literatur, Wissenschaft und Kunst zur Verwirklichung des Friedensgedankens beigetragen haben.

Verliehen wird die mit 25.000 Mark dotierte Auszeichnung jedes Jahr während der Buchmesse im Herbst vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels, dem Dachverband der Verlage und Buchhandlungen in Deutschland.

Ort der feierlichen Preisübergabe ist die Frankfurter Paulskirche, Tagungsort der Frankfurter Nationalversammlung von 1848, die für die demokratische Entwicklung Deutschlands von historischer Bedeutung war.

Die Preisträger werden von einem elfköpfigen Stiftungsrat mit einfacher Mehrheit gewählt. Vorschläge kann jedermann machen.

Posthum wurde der Preis bisher einmal vergeben: 1972 an den polnischen Kinderarzt und Schriftsteller Janusz Korczak. Einzigartig blieb auch die Ehrung einer Institution mit dem Friedenspreis, der 1973 an den Club of Rome ging.

Wiederholt hat es Auseinandersetzungen um die Preisträger gegeben:

Die Entscheidung für den senegalesischen Staatspräsidenten Senghor führte 1968 zu Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstranten.

1974 und 1981 wurde die Feierstunde von Sympathisanten und Angehörigen der Terror-Organisation Rote Armee Fraktion (RAF) gestört.

Umstritten war 1995 das Votum für die Orientalistin Annemarie Schimmel aus Bonn, der Kritiker mangelnde Distanz zu fundamentalistischen Positionen des Islams vorwarfen.

Eine Kontroverse löste der Schriftsteller Günter Grass 1997 aus, als er in seiner Laudatio auf den türkischen Preisträger Yasar Kemal die Kurdenpolitik der Bundesrepublik kritisierte.

1998 entbrannte nach der Rede des Preisträgers Martin Walser eine monatelange Dikussion in Deutschland über den Umgang mit der deutschen Vergangenheit.