Der Fußball ist zurück in Bergamo
21. Juni 2020Zu den schmissigen Klängen der Rockband Status Quo und deren Lied "Whatever you want" betraten die Mannschaften den Platz, doch danach wurde es schnell wieder ernst: Nach Begrüßung und Platzwahl versammelten sich alle Spieler um den Mittelkreis zu einer Schweigeminute. Über die Großbild-Leinwände im Stadion wurde ein Video zum Lied "Rinascerò, Rinascerai" abgespielt (auf Deutsch: "Wiedergeboren"). Darin zu sehen: Fans von Atalanta, noch vor der Corona-Pause auf den Tribünen des Stadions, Impressionen der Stadt und ihrer Bewohner - Bilder, die Hoffnung machen.
Aber auch das: Ärzte und Krankenschwestern, die an vorderster Front gegen die Corona-Pandemie und ihre Folgen gekämpft haben und die ebenso bekannte wie schreckliche Sequenz, die zeigt, wie sich nachts Militärlaster an Militärlaster reiht, um die vielen Toten abzutransportieren, die das Virus in Bergamo gefordert hat.
Vorbild Bundesliga
Vor dem Neustart der italienischen Serie A hatte es gerade in Bergamo und Umgebung viele Diskussionen gegeben, ob man überhaupt wieder Fußball spielen sollte, in Anbetracht der schweren Folgen der Pandemie und der hohen Opferzahl. Italien ist mit über 238.000 Corona-Fällen und fast 35.000 Toten mit am härtesten von allen europäischen Ländern getroffen. Bergamo, so erzählte es Robin Gosens, deutscher Außenverteidiger in Diensten von Atalanta, gegenüber der "Süddeutschen Zeitung", sei in zwei Lager gespalten. "Das eine sagt, wir haben Bock, dass es losgeht. Das andere sagt: Seid ihr eigentlich bescheuert? Beide Seiten versteht man irgendwie", sagte Gosens.
Doch die Entscheidung fiel pro Neustart, wohl auch, weil die deutsche Bundesliga und ihr Geisterspielbetrieb zum Vorbild genommen wurden. Dementsprechend gelten auch in Italiens Stadien nun die Hygienestandards, die auch die Deutsche Fußball Liga (DFL) in der Bundesliga mit Erfolg praktiziert: Maximal 300 Personen dürfen anwesend sein, dabei sind Klubmitarbeiter, Journalisten und Fotografen eingerechnet. Alle Spieler werden regelmäßig auf das Virus getestet, direkt vor dem Anpfiff wird nochmals die Körpertemperatur gemessen. TV-Interviews werden mit langer Mikrofon-Angel auf Abstand geführt und Gruppenfotos sind nicht erlaubt.
Allerdings lockerte Italiens Regierung die Richtlinien am Donnerstagabend noch einmal. Im Falle eines positiven Coronatests muss nun nicht mehr automatisch die gesamte Mannschaft in eine zweiwöchige Quarantäne. Damit will die Politik offenbar verhindern, dass es im Fall positiv getesteter Spieler zu einem neuen Abbruch der Meisterschaft kommt.
Bergamo ist nicht Neapel
Die Gefahr, dass die Fans das Virus auf die leichte Schulter nehmen und das Infektionsrisiko als gänzlich gebannt ansehen, besteht zumindest in Bergamo nicht. Dafür waren die Folgen der Corona-Pandemie zu gravierend. Wohl fast jeder Bergamaske ist entweder in Familie oder Freundeskreis persönlich betroffen, weil es Erkrankte oder sogar Tote gegeben hat. Oder er kennt zumindest jemanden, auf den das zutrifft.
Dass diese Vorsicht aber nicht für ganz Italien gilt, zeigte sich am vergangenen Mittwoch nach dem Finale in der Coppa Italia, dem italienischen Vereinspokal. Nachdem sich der SSC Neapel als Außenseiter im Elfmeterschießen gegen Serienmeister Juventus Turin durchgesetzt hatte, brachen in der süditalienischen Stadt alle Dämme. Die Napoli-Fans feierten ausgelassen auf den Straßen, die meisten von ihnen ohne Atemschutzmasken, und keiner achtete mehr auf Abstands- und Hygieneregeln. Möglicherweise lag das auch daran, dass Kampanien, die Region rund im Neapel, mit "nur" 431 Corona-Toten viel weniger betroffen ist, als die Lombardei mit 16.570 Opfern (Quelle: Johns Hopkins University, Stand 21.06.2020, 19 Uhr MESZ).
Doch verglichen mit dem Pokalfinale war das Spiel Atalanta gegen Sassuolo weit weniger dramatisch. Bergamo diktierte von Beginn an das Geschehen. Fast schien es so, als wollte man das gesamte Leid und die Sorgen und Ängste der vergangenen Monate gleich in der ersten Halbzeit vergessen machen. Mit einer klaren 3:0-Führung ging es in die Pause, am Ende stand es 4:1 für die Schwarz-Blauen.
Es war nur ein Fußballspiel. Das 25. von insgesamt 38 für Atalanta in einer Saison, wie es sie wohl nie wieder geben wird. Es war aber auch ein erster Schritt in Richtung Normalität, und die wünscht sich in Italien wohl niemand mehr als die Spieler von Bergamo und ihre Fans.