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Politik

Der griechische Patient - zehn Jahre danach

Jannis Papadimitriou
22. April 2020

2010 überraschte Griechenlands Regierungschef die Weltöffentlichkeit mit der Ankündigung, sein Land werde die EU-Partner um Finanzhilfen bitten. Seitdem ist Griechenland immer wieder für eine Überraschung gut.

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Griechenland George Papandreou
Kastellorizo, 23. April 2010: Griechenlands Premierminister Giorgos Papandreou bittet um internationale FinanzhilfeBild: picture-alliance/AP Photo/T. Bolari

Zumindest die Kulisse stimmt: Am Fischerhafen der sonnenverwöhnten Insel Kastellorizo tritt Premier und Sozialisten-Chef Giorgos Papandreou vor die Kameras, um zu verkünden, dass Griechenland seinen Verpflichtungen nicht nachkommen könne und auf Finanzhilfen angewiesen sei. Es ist der 23. April 2010. Daraufhin verkündet die EU ein 110 Milliarden schweres Kreditprogramm, das die Griechen nach anderthalb Jahren wieder an die Kapitalmärkte führen soll. Im Gegenzug werden schmerzhafte Reformen und Einschnitte verlangt.

Die sogenannte "Troika", bestehend aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank (ΕΖΒ) und Internationalem Währungsfonds (IWF), soll Reformbemühungen bewerten und grünes Licht für die Auszahlung der jeweils nächsten Kredittranche geben. Selbst kleinste Reformen werden allerdings unter dem Druck der Straße verzögert. Um nur ein Beispiel zu nennen: Erst 2012, nach zwei Jahren zäher Verhandlungen, gelingt es Übergangspremier Lucas Papademos durchzusetzen, dass Babymilch nicht mehr verteuert in den Apotheken, sondern zu Normalpreisen auch in Supermärkten verkauft wird.

Griechenland Proteste Merkel-Besuch
Athen, 8. Oktober 2012: Proteste gegen bevorstehenden Merkel-BesuchBild: picture-alliance/dpa

Lohn- und Rentenkürzungen von bis zu 40 Prozent erregen den Volkszorn in Hellas. Es kommt zu innenpolitischen Turbulenzen, überraschenden Regierungswechseln und Streit mit Brüssel. Aus dem Rettungsschirm wird Griechenland 2018 entlassen - sechseinhalb Jahre später als ursprünglich geplant. Giorgos Kyrtsos, Ökonom und EU-Parlamentarier der konservativen Partei ND, sieht die Schuld auf mehreren Schultern verteilt: "Zum einen haben die EU-Partner das Problem kleingeredet, um die eigenen Wähler nicht zu verlieren; zum anderen kochten sämtliche Regierungen und Oppositionsparteien in Athen ihr Süppchen und machten dabei Europa zum Sündenbock", klagt Kyrtsos im Gespräch mit der DW. Sozialisten-Chef Papandreou hat jedenfalls gebüßt: Nach Streit mit den EU-Partnern und seinen innerparteilichen Gegnern trat der einstige Hoffnungsträger 2011 zurück. Seine Partei kommt heute bei Umfragen nur noch auf einstellige Ergebnisse.

Rettung kurz vor dem Abgrund

Ist der griechische Patient nun gerettet? Panagiotis Petrakis, Wirtschaftsprofessor an der Universität Athen, gibt sich vorsichtig optimistisch. Das Wirtschaftsmodell Griechenlands, das in erster Linie auf den Tourismus setze, habe sich in all den Jahren kaum verändert, sagt er der DW. Unverändert hoch seien auch die Schulden, wenn man sich die absoluten Beträge anschaut. Dennoch: "Die mit den Gläubigern vereinbarte zeitliche Streckung der Schulden kommt einem Schuldenschnitt gleich", meint der Ökonom.

Dadurch hätte Griechenland bis voraussichtlich 2030 genügend Freiraum, um wieder auf die Beine zu kommen. Kritisch berichtet Petrakis über den IWF, der Liquiditäsengpässe in Krisenzeiten unterschätzt habe. Damit steht er nicht alleine da: Schon 2013 erklärten die IWF-Ökonomen Olivier Blanchard und Daniel Leigh in einem Arbeitspapier, man hätte die negativen Folgen der vom IWF verordneten Sparpolitik "nicht im vollen Umfang vorhersehen können".

Über Fehler seitens der Politiker spricht Petrakis ungern. Trotzdem kritisiert der Ökonom, dass die politische Führung in Athen "den Umfang wirtschaftlicher Probleme nicht immer realisiert hat" und im Jahr 2015 den Eindruck erweckte, als gäbe es einen anderen Weg. Dieser Weg hätte zur Katastrophe geführt, mahnt Petrakis - ein Seitenhieb auf die Linkspartei SYRIZA, die 2015 an die Macht kam, um "die Austeritätspolitik zu beenden".

Linkspremier Alexis Tsipras und sein Finanzminister Janis Varoufakis setzten auf eine Volksabstimmung zu den Sparauflagen der Gläubiger. Nach dem Nein-Votum sorgte Tsipras erneut für eine überraschende Wende, indem er den Sparauflagen doch noch zustimmte. Davor hatte der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble Griechenland einen Euro-Austritt nahegelegt. In Athen rätselt man bis heute darüber, ob Schäuble damals auf eigene Faust oder etwa in Absprache mit Bundeskanzlerin Angela Merkel handelte.

Schäuble und Varoufakis in Berlin
Berlin, Februar 2015: Pressekonferenz mit Bundesfinanzminister Schäuble (li.) und seinem griechischer Kollegen Varoufakis Bild: picture-alliance/dpa/M. Kappeler

EU-Parlamentarier Markus Ferber erinnert sich: "Die Wahrheit ist, dass Varoufakis vieles auf die Spitze getrieben hat. Gerade bei Schäuble war eine hohe Frustration vorhanden und das Referendum hat das Ganze auch noch verschärft, denn Tsipras hat praktisch mit einem Volksaufstand gedroht." Umso erstaunlicher sei es gewesen, dass Tsipras auf Druck der Troika die Auflagen doch umgesetzt und durch das Parlament gebracht habe, sagt der CSU-Politiker der DW. Fazit: "Da war die Frage des Austritts dahingehend beantwortet, dass er nicht stattfinden musste." Für Tsipras hat das Ganze ein Nachspiel: Varoufakis gründet eine neue Linkspartei, die derzeit im Athener Parlament mit neun Abgeordneten vertreten ist und als schärfster Kritiker des einstigen Linkspremiers gilt.  

Corona macht alles anders

Im Juli 2019 machen die Wähler in Hellas den radikalen Linksruck rückgängig. Der Konservative Kyriakos Mitsotakis wird neuer Regierungschef und stellt eine betont wirtschaftsliberale Politik in Aussicht. Wenig später die positive Überraschung aus Hellas: Die Überschüsse wachsen, der Tourismus meldet Rekordzahlen, die Börse in Athen boomt. Griechenland kehrt an die Finanzmärkte zurück und kommt günstiger an Geld als die USA. Die Konservativen sehen es als eine klare Bestätigung für ihren Kurs. Die Linken weisen darauf hin, dass ihre eigene Wirtschaftspolitik den Weg für den Aufschwung geebnet hat. Immerhin sind sich beide Lager mal ausnahmsweise einig: Griechenland findet wieder Anschluss.

Und dann kommt Corona. Das Virus drosselt die Konjunktur und legt den Tourismus, den Wirtschaftsmotor Griechenlands, lahm. Im TV-Sender Skai erklärt Ex-Finanzminister Gikas Hardouvelis, er befürchte ein Wirtschaftsminus von fünf Prozent in diesem Jahr. Doch selbst diese Prognose erscheint optimistisch. "IWF-Experten verkünden ein Minus von zehn Prozent", gibt Ökonom Petrakis zu bedenken. Einen ähnlichen Rückgang erlebte die griechische Wirtschaft nur im Jahr 2011, auf dem Höhepunkt der Schuldenkrise. Aber wenn die Corona-Krise schnell überwunden wird, könne man den Konjunktureinbruch noch aufholen, glaubt Petrakis. Und wenn nicht? "Tja, dann muss sowieso alles neu berechnet werden…", mahnt der Ökonom.