Der Kampf gegen die Fluchtursachen
15. September 2015"In Damaskus war ich schon lange tot. Die Flucht nach Europa war zumindest mit der Chance auf ein Leben versehen." So wie Alaa Houd, der aus Syrien geflohen ist, geht es vielen in den Krisenregionen dieser Welt. Die alltägliche Gefahr, der Mangel an Perspektiven und der Wunsch auf ein Leben in Frieden und Wohlstand treiben immer mehr Menschen auf die lange und gefährliche Reise nach Europa.
"Keiner nimmt die Gefahren und Strapazen ohne schwerwiegende Beweggründe einfach so auf sich", sagt die Vorsitzende des Bundestagsausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Dagmar Wöhrl. "In einem großen Teil der Fälle ist es die pure Verzweiflung und Ausweglosigkeit, die Menschen dazu bringt, aus ihrem Land zu fliehen."
Weltweit sind knapp 60 Millionen Menschen auf der Flucht. Die Zahl ist so hoch wie seit Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr. Die Mehrheit der Flüchtlinge, die in Europa ankommen, stammt aus Krisenregionen wie Syrien, Afghanistan und dem Irak. 85 Prozent sind es einer Analyse des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR zufolge. Allein innerhalb Syriens gelten 7,6 Millionen Menschen als Flüchtlinge im eigenen Land - Tendenz steigend. Andere wagen die Reise aus den Nachbarstaaten des Bürgerkriegslandes, in die inzwischen mehr als vier Millionen Menschen aus Syrien geflohen sind.
UNHCR und WFP klagen über Unterfinanzierung
Die katastrophalen Zustände in Krisenregionen und die damit in Verbindung stehende zunehmende Flüchtlingszahl stellen die Hilfsorganisationen der Vereinten Nationen vor massive Probleme. Auf 4,6 Milliarden Euro schätzen diese Organisationen den Bedarf, um allein die Flüchtlinge in den syrischen Nachbarländern in diesem Jahr mit dem Nötigsten zu versorgen. Doch dieser wird bei Weitem nicht gedeckt. "Der internationale Hilfsplan für die syrischen Nachbarländer ist nur zu 37 Prozent finanziert", klagt Martin Rentsch vom UNHCR. Vielen Staaten würden erbetene und teilweise sogar fest zugesagte Hilfsgelder nicht überwiesen, klagen die UN-Organisationen. Mit gravierenden Folgen: "Gerade die Menschen außerhalb der Flüchtlingscamps bekommen immer weniger finanzielle Unterstützung. Nach mehreren Jahren im Exil sind deren Ressourcen komplett aufgebraucht", so Rentsch.
In Jordanien beispielsweise leben dem UNHCR zufolge 86 Prozent der insgesamt rund 630.000 syrischen Flüchtlinge unterhalb der Armutsgrenze. Das Welternährungsprogramm (WFP) musste dort die Lebensmittelgutscheine für rund 211.000 Flüchtlinge auf 14 Dollar pro Person und Monat halbieren. Im Libanon waren 638.000 Flüchtlinge von einer ähnlichen Reduzierung der Hilfe betroffen. In Syrien selbst war das WFP gezwungen, die Rationen für die Menschen um ein Viertel kürzen.
Die Programme des UNHCR und des WFP müssten schnell finanziell aufgefüllt werden, mahnt die CSU-Bundestagsabgeordnete Dagmar Wöhrl. "Auch die EU ist hier mehr gefordert. Wir brauchen eine Soforthilfe von mindestens 1,5 Milliarden Euro für die Stabilisierung der Situation in den Flüchtlingslagern." Eines müsse allen klar sein, so Wöhrl: "Wenn Menschen in Flüchtlingslagern hungern, dann steigt damit auch die Motivation, das Lager zu verlassen und sich nach Europa aufzumachen." Der nahende Wintereinbruch könnte den Flüchtlingsstrom nach Europa noch verstärken.
Bundesregierung: Fluchtursachen bekämpfen
Wie der Bevölkerung in den Krisenregionen langfristig geholfen werden kann, ist in der aktuellen Debatte hierzulande nur ein Randthema. Die Bundesregierung ist sich der Problematik aber durchaus bewusst. "Bekämpfung der Fluchtursachen und Stabilisierung der Nachbarländer" ist der erste Punkt des Pakets, auf das sich Union und SPD zuletzt im Kanzleramt geeinigt haben. "Die Migrationswellen beginnen ja nicht am Ostbahnhof in Budapest und auch nicht am Strand von Kos", sagte Außenminister Frank-Walter Steinmeier vergangene Woche im Bundestag, "sondern dort, wo die Konflikte toben, wo schon Nachbarländer nicht mehr in der Lage sind, die menschlichen Notlagen in den Griff zu bekommen".
Lieber vor Ort helfen - im besten Fall sogar vor dem Ausbruch einer Krise - als später Flüchtlinge aufnehmen zu müssen, lautet daher der Ansatz der Regierung. "Wichtig bleiben die Maßnahmen zur Ernährungssicherung, zur Förderung von Bildung, Beschäftigung, Demokratisierung und Rechtsstaatlichkeit", listet Dagmar Wöhrl langfristige Strukturmaßnahmen auf, mit denen "wir Menschen vor Ort eine langfristige Bleibeperspektive geben".
Der Etat des Bundesministeriums für Entwicklung und wirtschaftliche Zusammenarbeit wächst auch für solche Maßnahmen im kommenden Jahr um 880 Millionen Euro. Für die sogenannte Nothilfe stellt die Bundesregierung dem Auswärtigen Amt zudem 400 Millionen Euro zusätzlich zur Verfügung.
"Ich finde es sehr positiv, dass das Bewusstsein dafür so gestiegen ist, dass genau diese Erstaufnahmeländer unterstützt werden müssen", sagt Migrationsforscher Steffen Angenendt von der Berliner Stiftung für Wissenschaft und Politik. Es sei wichtig, dass Deutschland dafür so viele Mittel zur Verfügung stelle. "Aber das muss unterstützt werden durch die Bemühungen vieler anderer Staaten. Sonst wird das nicht reichen." Und selbst mit deutlich stärkerer finanzieller Unterstützung bleiben die Optionen begrenzt und die Erfolgsaussichten oftmals gering. "Wenn das Aufnahmeland nicht bereit ist, die Mittel für die Versorgung der Flüchtlinge einzusetzen, dann nützen auch die zehnfachen Mengen nicht", sagt Angenendt.
Kurzfristig, das weiß man auch in Berlin genau, wird sich an der politischen Lage in Syrien, im Irak, in Afghanistan oder am Horn von Afrika wenig bis gar nichts ändern. Und der Zug der Flüchtlinge aus den Krisenregionen wird noch viele Monate anhalten.