Der Kniefall von Warschau
7. Dezember 2010Es ist ein trüber Dezember-Nachmittag in Warschau. Die deutsche Delegation war in die polnische Hauptstadt gereist, um den deutsch-polnischen Aussöhnungsvertrag zu unterzeichnen. Er ist wesentlicher Baustein der so genannten Ostpolitik, mit der eine Aussöhnung mit den ehemaligen osteuropäischen Kriegsgegnern des Zweiten Weltkriegs erreicht werden soll. Auf dem Programm steht auch die obligatorische Kranzniederlegung am Mahnmal für die Opfer des Aufstands im Warschauer Ghetto im April und Mai 1943. Für die Delegationsmitglieder steht ein normaler protokollarischer Vorgang an, dem Zuschauer und einige Journalisten beiwohnen.
Während Willy Brandt (SPD) und Außenminister Walter Scheel (FDP) langsam nach vorne an das Mahnmal gehen, deutet nichts darauf hin, dass in wenigen Augenblicken ein ungewöhnlicher Vorgang beginnen sollte.
Plötzlich bricht Unruhe aus. Leise raunen einige Delegationsmitglieder "er kniet" nach hinten weiter. Sofort wird es ruhig. Willy Brandt hatte die Schleifen des Kranzes gerichtet und war zwei Schritte nach hinten gegangen. Dann war er auf seine Knie herab gesunken. 30 Sekunden verharrt er mit versteinerter Miene. Während dieser Zeit spüren die Anwesenden, bei einem ganz besonderen Ereignis dabei zu sein. Nur das Klicken zahlreicher Fotokameras ist zu hören. Sie halten die Bilder fest, die auch Jahrzehnte später in keiner Dokumentation über die Ostpolitik der sozial-liberalen Koalition fehlen werden.
Mehr als eine Geste
Diese Geste machte aus Willy Brandt in Polen eine Ikone. In seinen Erinnerungen schreibt er, der Kniefall von Warschau sei nicht geplant gewesen. Mehr noch: Selbst auf dem Weg zum Mahnmal habe er nicht gewusst, dass er wenige Augenblicke später davor knien würde.
In Deutschland ist seine Ostpolitik umstritten. Die einen sprechen von "Gebietsverlusten" und nennen den Kanzler einen "Verräter". Für die anderen ist es die längst fällige Ergänzung der vom ersten Bundeskanzler Konrad Adenauer betriebenen Westintegration der Bundesrepublik Deutschland.
Deutsch-polnisches Verhältnis erneuert
In Polen ist der Kniefall als Geste der Demut und des Respekts verstanden worden. Sie wirkt bis heute nach. Für den ehemaligen polnischen Botschafter in Deutschland, Janusz Reiter, ist nicht das Jahr 1989 mit dem Fall der Mauer der "Beginn einer neuen europäischen Entwicklung". Die Wende in Europa habe für ihn 1970 angefangen, als Deutsche und Polen begannen, ein neues und besseres Verhältnis zueinander aufzubauen.
Einer seiner Nachfolger - Marek Prawda - erinnert daran, dass Brandt viel riskiert habe, um die Verständigung mit Polen durchzusetzen. Für ihn ist die "eindrucksvolle Geste" Ausdruck einer neuen Sprache der Aussöhnung zwischen Deutschen und Polen, die bis heute wirkt.
Willy Brandt wird später sagen, er habe angesichts der Millionen ermordeten Menschen das getan, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt.
Für Polen war der Kniefall der Beginn einer neuen Ära in den Beziehungen zur Bundesrepublik. In der Bundesrepublik wühlte die Geste auf. Die einen stimmten zu, die anderen monierten, Brandt habe die Knie gebeugt vor Soldaten, die zwei Jahre zuvor mit den Truppen des Warschauer Paktes in der Tschechoslowakei einmarschiert waren.
Autor: Matthias von Hellfeld
Redaktion: Kay-Alexander Scholz