Der Krieg, die Trauer und die Wut
1. September 2018"Finie la guerre?", "Ist der Krieg zu Ende?" Der Wagen der deutschen Unterhändler, der am 6. November aus Belgien kommend die Grenze nach Frankreich überquerte, versetzte die französischen Soldaten in Hochstimmung. Noch standen sich die Heere gegenüber, doch der über vier Jahre andauernde Krieg schien sich nun seinem Ende zu nähern. Vielleicht brachten die aus Berlin angereisten Politiker als Vorgeschmack des Friedens ja sogar ein paar Zigaretten mit? Doch Mathias Erzberger, der Leiter der deutschen Delegation, muss passen. "Als Nichtraucher", berichtet er in seinen Memoiren, "konnte ich den Wunsch nicht erfüllen."
Umso mehr aber entsprachen er und sein französisches Gegenüber, Marschall Ferdinand Foch, den Sehnsüchten von Millionen Europäern, als sie wenig später, am frühen Morgen des 11. November 1918, in einem Eisenbahnzug im Wald von Compiègne, rund 90 Kilometer nordöstlich von Paris, ihre Unterschriften unter den soeben ausgehandelten Waffenstillstand zwischen Deutschland und den Alliierten setzten. Deutschland hatte kapituliert. Mehrere Monate später, im berühmten Spiegelsaal des Schlosses von Versailles, unterschrieben beide Seiten dann offiziell den Friedensvertrag.
Die letzte deutsche Offensive
Bis in den Sommer 1918 hinein war das deutsche Heer an der Westfront noch vorgerückt, hatte zum Teil erhebliche Geländegewinne erzielt - obwohl die Heeresstärke allein zwischen März und Juli von 5,1 auf 4,2 Millionen Mann zurückgegangen war. Trotzdem kann das Kaiserreich seine Lücken bis zum Sommer 1918 schließen, wenn auch nur durch Rückgriff auf ehemals verwundete, nun wieder genesene Soldaten. Hinzu kommen die ersten Rekruten des Jahrgangs 1900, die nach und nach eingezogen werden.
Doch die Deutschen sehen sich nun einem ganz neuen Feind gegenüber: den Amerikanern. Nachdem US-Präsident Wilson Deutschland im April 1917 den Krieg erklärt hatte, rücken sie über den Atlantik. Im Frühherbst 1918 sind es rund 10.000 Soldaten - täglich. Die jungen Amerikaner mochten im Kampf unerfahren sein, räumt der Historiker John Keegan ein. "Entscheidend war jedoch, wie ihre Ankunft sich auf den Gegner auswirkte: zutiefst deprimierend." Letztendlich sind es die gut ausgerüsteten US-Einheiten, die den Krieg zugunsten der Alliierten entscheiden. Die oberste deutsche Heeresleitung muss im Herbst einsehen, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen ist, dass ein völliger Zusammenbruch der deutschen Front nur durch einen Waffenstillstand verhindert werden kann.
"Eine Ruine reihte sich an die andere"
Mit der Waffenruhe vom 11. November lagen vier Jahre ungeheuren Blutvergießens und nie gekannter Zerstörung hinter Europa. Von den Verwüstungen hatte sich Erzberger während der Reise durch Belgien und Frankreich ein eigenes Bild machen können: "Kein einziges Haus stand mehr; eine Ruine reihte sich an die andere", notierte er. "Bei Mondschein ragten die Überreste gespensterhaft in die Luft; kein Lebewesen zeigte sich."
Erzberger umriss die Bilanz eines Krieges, der so tödlich war wie keiner zuvor. Der technische Fortschritt und die Industrialisierung hatten ein Waffenarsenal entstehen lassen, das in Quantität und Qualität alles zuvor Dagewesene in den Schatten stellte: Unzerstörbar scheinende Panzer, unterhalb der Wasseroberfläche manövrierende Boote, Artillerie mit gigantischen Reichweiten, tödliche Gase.
6000 Tote pro Kriegstag
Ab 1916 setzten die Deutschen den "Langen Max" ein, dessen 300 Kilogramm schwere Geschütze durch ein 35 Meter langes Kanonenrohr geschleudert wurden und dann bis zu 48 Kilometer flogen. Mit dieser Waffe hatten die Deutschen am 23. März 1918 Paris beschossen. Einige Granaten trafen die Kirche Saint-Gervais, wo gerade ein Gottesdienst stattfand. 88 Menschen wurden getötet, rund 100 verletzt.
Militärhistoriker schätzen, dass im ersten Weltkrieg rund 850 Millionen Artillerie-Granaten verschossen wurden. Das Töten in diesem Massenkrieg war industrialisiert, im Geschosshagel der Kanonen und im Feuer der Maschinengewehre starben bis zu elf Millionen Soldaten. Fast 56 Millionen Rekruten waren in allen kriegführenden Nationen zusammengerechnet zum Wehrdienst eingezogen worden. Im Durchschnitt fielen pro Kriegstag 6000 Soldaten. Hinzu kamen mehr als 21 Millionen verletzte Soldaten - Menschen die ihre Gliedmaßen ganz oder in Teilen verloren hatten, die gelähmt oder bettlägerig waren, die Amputationen hatten hinnehmen müssen, die blind oder taub geworden waren.
"Der ganze Leib war weg"
Entsprechend verstörend die Erfahrungen an der Front: "Es ist furchtbar, wenn Granatsplitter mit dieser Gewalt in Weichteile hineingehen", erinnert sich etwa der deutsche Soldat Karl Bainier, Jahrgang 1898. "Unsere zwei Befehlsläufer haben nachts auch einen Volltreffer gekriegt. Die ganze Brust, der andere der ganze Leib weg. Der mit dem Leib war sofort tot. Der andere hat noch geschrien." Er und seine Truppe hätten Schutz in einem schräg in die Erde gegrabenen Stollen gesucht, berichtet Johannes Götzmann, Jahrgang 1894. "Wir saßen unten, als die Garage getroffen wurde. Es gab ziemlich viele Verwundete. Einer hatte keine Beine mehr. Beide Beine waren ab. Er ist dort verblutet."
So ist es nicht erstaunlich, dass vor allem die Soldaten das Ende des Krieges herbeisehnten. Es sei "nichts Ungewöhnliches mehr", notierte der Heerführer Prinz Rupprecht von Bayern bereits im Mai 1918, dass "bis zu 20 von Hundert der Mannschaften sich unerlaubterweise entfernen, wofür sie, wenn wieder aufgegriffen, meist mit zwei bis vier Monaten Gefängnis bestraft werden. Dies ist aber gerade, was manche wollen, da sie so der einen oder anderen Schlacht entgehen." In den folgenden Monaten wird die Front aufseiten der Mittelmächte immer brüchiger: Zahllose Soldaten verweigern den Kampf, andere machen sich auf eigene Faust auf den Weg nach Hause. "Du liegst im Bett und bist eine Krankheit. Du bist ein Schädelbruch, ein Bauchschuss, eine Beckenfraktur", beschrieb Alfred Döblin in seinem Roman "November 1918. Eine deutsche Revolution" das Lebensgefühl der Rekruten.
Geburt der "Dolchstoß-Legende"
Die Reihen der Deutschen lichten sich. Die Oberste Heeresführung stiehlt sich aus der Verantwortung. Am 19. September 1918 notierte der Erste Generalquartiermeister Erich Ludendorff: "Ich habe Seine Majestät gebeten, jetzt auch diejenigen Kreise an die Regierung zu bringen, denen wir es in der Hauptsache zu verdanken haben, dass wir so weit gekommen sind. Wir werden also diese Herren jetzt in die Ministerien einziehen sehen. Die sollen nun den Frieden schließen, der jetzt geschlossen werden muss. Sie sollen die Suppe jetzt essen, die sie uns eingebrockt haben."
Mit "diesen Herren" meinte Ludendorff die Politiker jener Reichstagsfraktionen, die bereits im Sommer 1917 für einen Friedensschluss plädiert hatten - Sozialdemokraten, Linksliberale und die katholische Zentrumspartei.
Die Behauptung des angeblichen Verrats durch die kriegsmüde Heimat griff auch Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg auf, der ranghöchste Militär des deutschen Kaiserreichs. Er zitierte den Satz eines "englischen Generals", der womöglich niemals gefallen ist: "Die deutsche Armee ist von hinten erdolcht worden." Der gemeinte General, Frederick Maurice, bestritt zwar vehement, sich jemals so geäußert zu haben. Doch seine Erklärung bewirkte wenig: Die "Dolchstoßlegende", die Behauptung, der Krieg sei allein durch "Verrat" im Inneren verloren worden, war geboren. Sie sollte wesentlich dazu beitragen, dass die Weimarer Republik später scheitern sollte.
"Wut, Wut, Wut und noch lange kein Sinn"
Doch zunächst bringt der 11. November 1918 das millionenfach herbeigesehnte Ende des Krieges. Ein Ende des Leidens bringt er allerdings nicht. Entbehrung, Not und Trauer haben die Menschen weiter im Griff. Hinzu kommt das um sich greifende Gefühl, umsonst gekämpft, umsonst gelitten zu haben. "Sinnlosigkeit, auf ihrem höchsten Punkt angelangt, ist Wut, Wut, Wut, und noch lange kein Sinn", fasst der Schriftsteller Walter Serner den Zorn seiner Landsleute zusammen. Vor allem die Deutschen ergreift dieses giftige Gefühl. Es sollte zum Nährboden werden für den politischen Aufstieg eines ehemaligen Frontsoldaten namens Adolf Hitler.