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"Generation Gezi"

Ahmet Tulgar2. August 2013

Der wichtigste Appell der Demonstranten richtet sich an Premier Erdoğan und besagt ganz klar: "Misch dich nicht in unsere persönlichen Angelegenheiten ein", so der türkische Schriftsteller Ahmet Tulgar.

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Bild von Ahmet Tulgar. Es geht um ein gemeinsames Projekt DW Turkish und DW Kulturredaktion. Herr Tulgar ist Blogger der DW bei diesem Projekt.Zugeliefert am 14.9.2012 durch Başak Özay. Copyright: Ahmet Tulgar
Ahmet TulgarBild: Ahmet Tulgar

Es begann alles ganz harmlos: Mitte Juni errichteten Demonstranten im Istanbuler Gezi Park ein Zeltlager, um friedlich gegen das Fällen der Bäume zu protestieren. Der Park sollte einem Einkaufszentrum mit Wohngebäuden weichen. Doch als die Polizei gewaltsam einschritt, um die Demonstranten zu vertreiben, griffen die Proteste wie ein Flächenbrand im ganzen Land um sich. Längst ging es nicht mehr nur um Bäume, es ging um Mitbestimmung und mehr Demokratie. Seitdem kommt es jedes Wochenende zu neuen Protesten, und jedes Mal gehen die Sicherheitskräfte unbarmherzig mit Tränengas, Wasserwerfern und Plastikgeschossen gegen die Demonstranten vor.

Galgenhumor und friedliche Demonstranten

Bisher fielen fünf Menschen der Polizeigewalt zum Opfer. Doch trotz dieser Todesfälle bleiben die Demonstranten friedlich - ja, sie antworten auf den Druck der Staatsmacht sogar mit humorvollen Parolen, die sie auf Häuserwänden und Plakaten verewigen. Dieser Galgenhumor ist ein entscheidendes Merkmal der Protestbewegung und neu für die Türkei. Er wird der jüngeren Generation zugeschrieben, die neben den politisch motivierten, linksorientierten und kemalistisch-laizistischen Gruppierungen eher aus individuellen Gründen an den Protesten teilnimmt.

Die Heterogenität der protestierenden Volksgruppen ist auffallend, aber ein gemeinsames Ziel vereint sie alle: nämlich die Verteidigung der Privatsphäre und der Individualität jedes einzelnen Bürgers.

Moralische Instanz unerwünscht

Seitdem die konservative Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) zum dritten Mal an die Macht gelangte, wecken Erdoğans populistische Reden Sorge unter den Bürgern, die eher westlichen Demokratien und Werten zugewandt sind. Sie fühlen sich als Individuen von Erdoğan beleidigt, der sich zunehmend als moralische Instanz betrachtet, die Lebensweise der Bürger zu bestimmen. So empfiehlt er in seinen Parlamentsreden Eheleuten, wie viele Kinder sie zeugen sollen und propagiert im Fernsehen öffentlich, dass man denjenigen, der ein Glas alkoholhaltiges Getränk konsumiere, Alkoholiker nennen dürfe. Das sind nur zwei Beispiele der Einmischung Erdoğans in das Privatleben; konservative Bürger allerdings sehen darin eine Politik der Stärke.

Ruf nach Pressefreiheit

Die neue Protestbewegung begehrt nicht nur gegen die konservative Regierung und die Polizei auf; sie richtet sich auch gegen die großen Medienkonzerne, die den Aufstand des Volkes entweder verfälscht zugunsten der Regierung wiedergaben oder ganz verschwiegen. Die mangelnde Pressefreiheit ist in der Türkei Alltag; jetzt ist sie in den Fokus breiterer Volksmassen gerückt, die das nicht mehr länger hinnehmen wollen. Für viele Bürger, besonders im Westen des Landes, ist diese Protestbewegung eine Art Weckruf, die ihnen Selbstvertrauen eingeflößt hat.

Die große Masse türkischer Bürger geht zum ersten Mal seit den 80er Jahren, vielleicht sogar seit der Gründung der Republik, auf der Straße und kämpft um ihre Rechte. Schon lange gibt es keine richtige Opposition im Lande. Einzig die kurdische Bewegung widerstand den Repressionen des Staates so heldenhaft, dass sogar diejenigen den Kurden Heroismus einräumten, die ihnen aus nationalistischen Vorurteilen heraus feindlich gesinnt waren. Ja, so mancher beneidete sie sogar.

Mangelnde Gesprächsbereitschaft

Die Kemalisten, die in der Tradition Atatürks stehen und sich für die strike Trennung von Staat und Religion einsetzen, fühlen sich zum ersten Mal seit Amtsantritt der AKP-Regierung so bedroht und missachtet, dass sie allmählich beginnen, Empathie mit den Kurden zu hegen. So kursiert ein Foto von zwei Demonstranten, von denen einer eine türkische Fahne, der andere die Flagge der kurdischen Partei für Frieden und Demokratie (BDP) schwenkt; beide fliehen Hand in Hand vor den Wasserwerfern der Polizei.

Die Bevölkerung der Türkei besteht hauptsächlich aus drei Gruppen: den Kurden, den Anhängern einer laizistisch-westlich Ausprägung und den konservativen Islamisten. Sie alle haben Anteil an der wirtschaftlichen Produktion des Landes, aber auf kultureller Ebene gibt es keinen funktionierenden Dialog. Insofern kann man wohl kaum von eine unitären Türkei reden.

Der Grund für die Sprachlosigkeit der Gesellschaftsschichten untereinander geht auf die Gründung der Republik im Jahr 1923 zurück; seitdem wurden die Werte der Muslime und Kurden unterdrückt. Eine demokratische Autonomie wäre eine Chance für das Land, wieder eine kommunikative, demokratische Gesellschaft aufzubauen.

Neues Selbstvertrauen

Seit Beginn des Widerstands hat sich ein neues Selbstbewusstsein etabliert. Dass die Proteste international beachtet werden und Demonstranten in Spanien und Brasilien sogar türkische Parolen skandierten und türkische Plakete trugen, hat das noch verstärkt. Das frisch gewonnene Selbstvertrauen führt dazu, dass sich vor allem die Anhänger eines laizistisch-westlichen Staatsmodells aufgeschlossener geben und eher bereit sind, Kontakt zu den anderen Gruppen aufzunehmen.

Mein Fazit: Menschen mit Selbstvertrauen können eine kommunikative Gesellschaft bilden. Die neue Protestbewegung wird auch in der Türkei den gesellschaftlichen Zusammenhalt verschiedener Bevölkerungsgruppen fördern.

Der Journalist und Schriftsteller Ahmet Tulgar, Jahrgang 1959, saß von 1984 bis 1987 wegen angeblicher kommunistischer Propaganda im Gefängnis. Diese Zeit hat sein Werk sehr geprägt; seine Essays und Bücher sind provokant und schonungslos. Sie erzählen von Einsamkeit, Schicksalsschlägen und der Unterdrückung des Einzelnen durch den Staat.