"Der Schock sitzt bei allen tief"
22. September 2021Mit einer Waffe kam der Student Timur Bekmansurow am 20. September zur Staatlichen Nationalen Forschungsuniversität Perm und eröffnete das Feuer. Nach Berichten von Augenzeugen zog er mit enormer Brutalität von Gebäude zu Gebäude und tötete dabei sechs Menschen - vier Studentinnen, eine Absolventin und eine 66-jährige Frau, die sich mit ihrem Enkel die Universität nur anschauen wollte. Über zwanzig Personen wurden verletzt. Einem Polizisten gelang es schließlich, den Täter zu überwältigen. Dabei wurde Bekmansurow durch Schüsse des Beamten verletzt, auf den der Täter selbst zuvor gefeuert hatte.
"Durch Unheil zusammengeschweißt"
Die Universität Perm zählt mit etwa 13.000 Studierenden zu den größten Hochschulen im Ural. Sie verfügt über einen eigenen Campus und besteht aus mehreren Gebäuden. Nach dem Amoklauf wurde das Gelände vollständig abgeriegelt, überall sind jetzt Sicherheitskräfte zu sehen. Am Haupteingang der Uni stehen Tische, auf denen Blumen niedergelegt werden.
Dort haben sich um 10 Uhr morgens nur wenige Menschen eingefunden, meist Journalisten mit ihren Kameras sowie Dozenten und Studierende. "Alle sind jetzt bei der Arbeit, abends werden mehr Menschen kommen", erklärt die 20-jährige Jana, die an einer anderen Hochschule der Stadt studiert. Sie sagt weiter: "Der Schock sitzt bei allen tief, vielen ist das aber noch gar nicht bewusst."
Janas Freundin Anna fügt noch hinzu: "Ich persönlich hatte große Angst, mir die Opfer-Listen anzuschauen. Auch wenn Perm eine Millionenstadt ist, kennt hier doch jeder jeden."
Auch der 20-jährige Grigorij ist zur Universität gekommen, auch er studiert an einer anderen Hochschule in Perm. Aber an der Staatlichen Nationalen Forschungsuniversität hat er Freunde. "Als ich aus Berichten von der Schießerei erfuhr, habe ich am ganzen Körper gezittert und saß wie gelähmt zu Hause. Das hat mich sehr berührt. Ich habe mich erst beruhigt, als ich hörte, dass meine Freunde in Sicherheit sind. Gestern hat mich angenehm überrascht, dass viele meiner Freunde in sozialen Netzwerken zur Blutspende aufgerufen haben. Wie man sieht, sind Menschen anderen Menschen doch nicht egal. Nur leider werden sie erst durch Unheil zusammengeschweißt", sagt Grigorij. Allein an diesem Tag sind in Perm über 200 Menschen zur Blutspende gekommen.
Warnung vor ungeprüften Informationen
Studierende, die während der Schießerei in der Uni waren, reden nur ungern mit Reportern. Um viele der jungen Menschen kümmern sich derzeit Psychologen. "Ich gehe zur Gedenkstätte, aber ich kann nicht reden. Ich habe einen Beitrag in sozialen Netzwerken geschrieben, um meine Gefühle loszuwerden und all dies hinter mir zu lassen", sagt die Studentin Maria Agejewa. Sie war während des Amoklaufs in Gebäude 8 und hat wie durch ein Wunder überlebt. Sie erzählt, der Täter habe sich im zweiten Stock befunden, sie selbst im dritten: "Wir wollten gerade runterlaufen als die Schüsse fielen. Wir wären garantiert umgekommen."
Unterdessen bittet auch die Universitätsleitung, über betroffene Studierende nicht zu berichten. Natalia Petschischtschewa, Sprecherin der Forschungsuniversität Perm, sagt: "Wir sind der Meinung, dass keine ungeprüften Informationen verbreitet werden sollten. Zum Beispiel hieß es zunächst, der Täter habe nur eine Selbstverteidigungswaffe gehabt, doch dann haben wir gesehen, dass es etwas anderes war."
Mehrere Studierende werden zurzeit in zwei Wohnheimen direkt auf dem Universitätsgelände abgeschirmt. Aufgrund von Ermittlungsmaßnahmen ist auch ihre Bewegungsfreiheit eingeschränkt. "Man kann einen Passierschein bekommen, wenn man zum Beispiel von den Eltern abgeholt wird. Aber es werden nur wenige herausgelassen", sagen Studentinnen, die das Gelände verlassen konnten.
Wie noch mehr Opfer vermieden wurden
Darüber, wie sich das Lehrpersonal während des Amoklaufs verhalten hat, wird durchaus berichtet. Dank eines gut koordinierten Vorgehens konnten noch mehr Opfer vermieden werden. Manche Professoren und Dozenten schlossen die Eingangstüren zu den Hörsälen ab und verbarrikadierten sie mit Tischen. Die Chemie-Dozentin Alexandra Juminowa zum Beispiel sicherte die Tür mit dem Gurt einer Laptop-Tasche. Ihr Hörsaal war der erste auf dem Weg des Täters. Er versuchte dort einzudringen und schoss auf die Tür. Zwei im Hörsaal befindliche Mitarbeiter der Uni leisteten bei den Verletzten Erste Hilfe.
Iwan Petschischtschew, Dozent am Institut für Journalismus der Uni Perm, sagt, wie man sich bei einem Amoklauf zu verhalten habe, hätten die Dozenten anhand anderer Fälle gesehen, und er verweist auf die Schießereien in Kasan und Kertsch: "Das erste und einfachste ist, sich im Hörsaal einzuschließen und notfalls zu verbarrikadieren." Über die Sprechanlage, aber auch über das soziale Netzwerk der Uni konnten klare Anweisungen erteilt werden. Außerdem ist Petschischtschew froh, dass der Sicherheitsdienst gleich nach den ersten Schüssen die Eingangstüren der Uni verschloss.
Für den Philologen Oleg Syromjatnikow, der seine Vorlesung nicht abbrach, interessieren sich Journalisten besonders. Er erklärte, er sei sich der Situation bewusst gewesen, habe die Stahltür verschlossen und die Vorlesung fortgesetzt, um Panik zu vermeiden. "Wäre es besser gewesen, die Studierenden wären aus den Fenstern gesprungen und hätten sich dabei den Hals gebrochen? Hätte ich mich schweigend vor die Studierenden setzen sollen?", sagte er lokalen Medien.
Gegen Abend ist auf den Tischen kein Platz mehr und die Menschen legen ihre Blumen auf dem Boden nieder. Es ist still. Zu hören ist nur das Klicken der Ampel, die umgeschaltet werden kann, wenn jemand die Straße zur Uni überqueren möchte. Heute war sie den ganzen Tag zu hören. Die Menschen stehen schweigend mit brennenden Kerzen, manche beten für die sechs Opfer: die 26-jährige Anna Aigeldina, die 20-jährige Alexandra Mochowa, die 19-jährige Ksenia Samtschenko, die 19-jährige Jekaterina Schakirowa, den 19-jährigen Jaroslaw Arameljew und die 66-jährige Margarita Engaus. Zu ihrem Gedenken fand ein Konzert in der örtlichen Philharmonie statt, das mit einer Schweigeminute begann. Am 22. und 23. September sollen die Opfer beigesetzt werden. Bis zum 27. September findet an der Universität kein Unterricht statt.
Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk