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"Der Wiener Kongress war ein riesiger Fortschritt"

Sarah Judith Hofmann 18. September 2014

Vor 200 Jahren begann der Wiener Kongress. Es war der erste Schritt zu einem vereinten Europa, meint der Historiker Thierry Lentz. Ein Gespräch über Frieden durch Diplomatie, Wiener Bälle und Küsschen zur Begrüßung.

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Europa nach dem Wiener Kongress Karte
Das neue Europa: Die neue Grenzziehung nach dem Wiener Kongress

Vor 200 Jahren begann der Wiener Kongress. Wie wichtig sind die Themen, die damals besprochen wurden, heute überhaupt noch?

Das Europa von heute ist – wenn man so will – ein Enkelkind des Wiener Kongresses. 1814/15 ist ein außerordentlich wichtiger Moment für die Neuordnung und Gründung Europas nach den Revolutions- und den napoleonischen Kriegen. Der Wiener Kongress ist ein wichtiges Element jener Kette, die schließlich zu einem Vereinten Europa führte – und verdient daher noch heute Beachtung.

Was war das Ziel des Wiener Kongresses – und was war das Ergebnis?

Das Ziel des Wiener Kongresses war es nach 25 Jahren Krieg, permanenter Grenzverschiebungen, dem Verschwinden und der Neugründung von Staaten, ein neues Europa aufzubauen. Die Zeitgenossen blickten damals wirklich auf ein Europa, das einer zerbrochenen Vase glich, deren Einzelteile man aber nicht einfach wieder zusammenfügen konnte, weil sie – die einzelnen Staaten – zum Teil gar nicht mehr in dieser Form existierten. Die Idee war also ein völlig neues geographisches Europa aufzubauen, das zugleich der Geschichte und all der Veränderungen Rechnung trug, die die französische Revolution und die napoleonischen Kriege gebracht hatten. Dabei wollte man bewusst nicht wie auf einem Teppichbasar verfahren, sondern sich beim Verhandeln an gewisse Regeln halten. Und der gemeinsame Nenner war zu dieser Zeit die Anerkennung der Rechtmäßigkeit der Herrscher als derjenigen, die über diese Neuordnung verhandeln würden.

Deutschland Europa Geschichte Wiener Kongress 1814 - 1815
Der Wiener Kongress: Zwischen Verhandeln und Feiern.Bild: Getty Images

25 Jahre nach der Französischen Revolution hatten auf einmal wieder die Monarchen das Sagen. Steht der Kongress damit nicht vielmehr für einen Rückschritt denn für Fortschritt?

Wenn man mit heutigen Augen auf den Wiener Kongress blickt, dann gibt es natürlich extrem viele Punkte, die man kritisieren kann. Das steht außer Frage. Aber damals versuchten die Mächtigen in Europa, eine Gemeinsamkeit zu finden, denn darum geht es schließlich bei Verhandlungen, und diese war nun einmal, dass sehr viele Monarchen auf ihrem Thron geblieben waren. Wir neigen heute dazu, zu glauben, sie hätten alles versucht, was die Französische Revolution erreicht hatte, wieder rückgängig zu machen, aber dies ist nicht ganz richtig. Sie mussten ihren Staaten immerhin aufgrund der Beschlüsse von Wien eine Verfassung geben. Das mag uns heute normal erscheinen, damals gab es in Europa kaum einen Staat, der eine ernsthafte Verfassung besaß.

Es gibt zwei große Leistungen des Kongresses: Die Neuordnung Europas und – dies wird häufig vergessen – die Schaffung eines internationalen Rechts durch das, was man das europäische Konzert nannte. Dies meinte die Vereinigung der europäischen Großmächte, um die Probleme des Kontinents in den Griff zu bekommen. In gewisser Hinsicht war dies ein Vorläufer des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, denn hier wurden Entscheidungen getroffen, die auch all jene Staaten betrafen, die die Schlussakten von Wien gar nicht unterzeichnet hatten. Dies gilt zum Beispiel für die Ächtung des Sklavenhandels. Es ging also bei weitem nicht nur darum, die Französische Revolution wieder rückgängig zu machen.

Der französische Historiker Thierry Lentz
Thierry LentzBild: Bruno Klein

Ein weitere Mythos ist es, dass auf dem Wiener Kongress ausschließlich gefeiert wurde. Sie zitieren in Ihrem Buch den berühmten Satz des Fürsten von Ligne: "Der Kongress arbeitet nicht, er tanzt." Was ist dran an diesem Ausspruch?

Der Satz stimmt in dem Moment, in dem ihn der Fürst von Ligne ausspricht. Zu diesem Zeitpunkt waren die Verhandlungen ins Stocken gekommen. Und es ist auch richtig, dass der König von Österreich, der die Welt bei sich zu Gast hatte, eine Reihe von Abendveranstaltungen vorbereitet hatte, um die Rückkehr des Friedens zu feiern – und um die Kongressteilnehmer bei Laune zu halten. Denn die großen Verhandlungen fanden lediglich unter acht Staaten statt, die Sieger des Krieges plus Frankreich, das den Krieg verloren hatte. Es waren aber hunderte von Delegationen angereist, die beschäftigt werden mussten. Also organisierte man Bälle. Das ist aber ganz üblich. Schauen sie auf heutige internationale Kongresse, beispielsweise die G-8-Gipfel. Neben den offiziellen Treffen gibt es ein Randprogramm für die Delegationen und die Begleitungen – natürlich nicht so überschwänglich wie damals in Wien, aber man sollte auch den Kongress von damals nicht auf die Bälle reduzieren.

Stand am Ende wirklich eine Neuordnung Europas?

Europa wurde tatsächlich umgestaltet und neu geordnet. Beispielsweise die Niederlande wurden gegründet, diesen Staat hatte es bis dahin nicht gegeben, die Karte Italiens wurde völlig neu gezogen – und dann war das große Thema des Kongresses natürlich Deutschland. Am Ende wurde der Deutsche Bund gegründet als eine wage Interessensgemeinschaft, in der es noch keine einheitlichen Regeln gab – unter der Vorherrschaft Österreichs. 1815 konnte sich noch niemand vorstellen, dass es am Ende Preußen sein würde, das eine Vormachtstellung übernehmen würde.

Buchcover 1815. Der Wiener Kongress und die Neugründung Europas

Ihr Buch endet mit dem Versailler Vertrag 1919, den Sie den "neuen Wiener Kongress" nennen. Welche Parallelen und auch Unterschiede sehen Sie zwischen diesen beiden Abkommen – die beide nach großen Kriegen eine Neuordnung schufen?

Meiner Meinung nach war man 1815 wesentlich intelligenter als 1919. Natürlich gab es auch auf dem Wiener Kongress die Großmächte, die die Diskussion leiteten, aber sie haben den anderen nicht einfach ihre Weltordnung auferlegt wie dies 1919 der Fall war. 1919 hat man den Besiegten keinerlei Mitspracherecht gegeben, man hat sie zu sich bestellt als die Verträge fertig waren. Es gab keinerlei Verhandlungen – lediglich unter den Siegern. Die Besiegten aber ließ man nicht zu Wort kommen, so wie dies 1815 noch der Fall gewesen war.

Sie nannten den Wiener Kongress zu Beginn unseres Gesprächs einen ersten Schritt in Richtung eines vereinten Europas. Welche Parallelen gibt es zur heutigen EU?

Was damals das "Europäische Konzert“ genannt wurde, war tatsächlich das erste Mal überhaupt in der Geschichte Europas, dass einzelnen Mächte sagten: Wir müssen aufhören, Krieg gegeneinander zu führen und statt dessen miteinander reden. Weil sie verstanden hatten, dass sich Europa damit selbst zerstörte. Zu Beginn waren dies nur vier Länder: Russland, England, Österreich und Preußen. Danach kamen Frankreich und Italien hinzu. Und dies hat funktioniert – auch wenn es noch Kriege danach gab, zum Beispiel zwischen Frankreich und Deutschland – doch sie entflammten nicht ganz Europa. Insofern: Ja, der Wiener Kongress ist der erste Schritt hin zu einem Europa, das miteinander spricht, diskutiert und versucht, seine Probleme anders als mit Krieg zu lösen. Heute können wir uns nicht mehr vorstellen, wie man in Europa Kriege gegeneinander führen kann, dabei ist dies noch gar nicht so lange her. Erst seit den 50er Jahren geben wir uns Küsschen zur Begrüßung anstatt uns zu bekriegen. Bis dahin hat man hunderte von Jahren Krieg geführt, um Probleme zu lösen. Das ist natürlich ein riesiger Fortschritt. Und der erste Schritt dorthin war der Wiener Kongress.

Das Gespräch führte Sarah Judith Hofmann

Der französische Historiker Thierry Lentz ist Direktor der Fondation Napoléon mit Sitz in Paris. Sein neues Buch "1815. Der Wiener Kongress und die Neuordnung Europas" ist jetzt auf Deutsch erschienen bei Siedler.