Ye Fu: Der "wilde Kerl" aus China
6. März 2013
Karneval in Köln, draußen feiern die kostümierten Narren. Drinnen sitzt Zheng Shiping auf der Couch seiner Kölner Wohnung. Wie viele chinesische Schriftsteller hat auch Zheng Shiping ein Pseudonym. Zufällig passt es gut zur fünften Jahreszeit. Ye Fu nennt er sich, auf Deutsch: wilder Kerl. Wie ein wilder Kerl sieht Zheng - alias Ye Fu - aber gar nicht aus mit seinen dunkelgrauen Jeans und seinem grauen Pullover. Das kurze Haar ist gleichmäßig geschnitten. Er trägt eine Hornbrille mit Messingbügeln. Eine Schriftstellerfreundin hat den 51-Jährigen ziemlich treffend beschrieben: als Mischung aus Vertreter der Arbeiterklasse und Intellektuellem.
Ye Fu hat sich in den letzten Jahren vor allem mit seinen stark autobiographisch geprägten Geschichten und Essays einen Namen gemacht. Deshalb hat ihn die neu gegründete Akademie der Künste der Welt als zweiten Stipendiaten ihres Fellowship-Programms nach Köln geholt - für ein Jahr. Durch die Beschäftigung mit seiner eigenen Vergangenheit setzt sich Ye Fu zugleich intensiv mit der jüngsten Geschichte Chinas auseinander. Dort gehört er zu jenen Autoren, die lautstark und offen Ihre Meinung sagen und dem Drang nach politischer Veränderung Ausdruck verleihen.
Vom Polizisten zum Gefangenen
Das war nicht immer so. Nach seinem Literaturstudium trat der damals 26-jährige Ye Fu eine Stelle bei der Polizei an. "Damals hatte ich als persönlicher Assistent eines lokalen Polizeichefs gute Aufstiegschancen", schmunzelt der Schriftsteller heute, 25 Jahre später. Diese Aufstiegschancen konnte und wollte er nicht nutzen. Der Wendepunkt kam 1989. Als Studenten auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens für Demokratie und Meinungsfreiheit demonstrierten, schlug sich Ye Fu auf die Seite der Demonstranten.
In seinem Essay "Romantische Liebe in revolutionären Zeiten" (Ge ming shi qi de lang man ai qing) verschmilzt Ye Fu eine Liebesgeschichte mit seinem Abstieg vom Polizisten zum Gefangenen: Als Vertreter der Staatsgewalt hat er den Auftrag, Demonstranten in der süd-chinesischen Inselprovinz Hainan zu überwachen. Dabei verliebt er sich in eine Journalistin. Als beide vom Pekinger Massaker am 4. Juni 1989 erfahren, entscheidet sich Ye Fu: Er will nicht mehr zu den "Lakaien des Systems" gehören und kündigt.
Lebenslanger Schmerz
Sein Idealismus brachte ihm sechs Jahre Gefängnis ein. Sein Vater starb während seiner Haftzeit. Seine Mutter beging kurz nach seiner Freilassung Selbstmord. Ein unerträglicher, schmerzhafter Verlust, den er später in seinem berühmtesten Essay verarbeitete: "Meine Mutter auf dem Fluss" (Jiang shang de mu qin). Als erster Festlandchinese gewann Ye Fu damit den ersten Preis in der Kategorie "Non-Fiction-Literatur" bei der Internationalen Buchmesse in Taipeh im Jahr 2010. Trotz dieser Erfolge: Sein Geld verdient Ye Fu nicht als Schriftsteller, sondern als Drehbuchautor für Fernsehserien. Da gehört er zu den Großverdienern: Das Honorar für eine 45-minütige Folge entspricht dem Jahresgehalt eines Büroangestellten. Das gibt ihm die Freiheit, in seinen Büchern zu schreiben, was und wie er will.
Ye schaut entspannt auf den Rhein und beobachtet die Kölschen Jecken, die in bunten Kostümen durch die Straßen ziehen. Irgendwie erinnert ihn das an die Demokratiebewegung 1989. "Die Stimmung in China damals war ähnlich - wie bei einer langen Karnevalsfeier", sagt er. "Die jungen Leute verließen immer erst spät abends das Haus. Tagsüber war es einfach zu heiß. In der Abenddämmerung auf der Strasse trafen sie sich wie frisch Verliebte. Pünktlich, beladen mit Leidenschaft."
Chinesischer "Jeck" mit Leidenschaft
Auch noch heute lässt sich Ye Fu gerne von der Leidenschaft mitreißen. Mit einer knallroten Teufelsperücke und einem rot-weißen Schal mit Kölner Stadtwappen habe er sich unter die Feiernden gemischt, erzählt er. Eine Szene hat ihn dabei besonders beeindruckt: Wie schnell fremde Männer und fremde Frauen an Karneval ein Paar werden. Offen gibt er auf seinem Mikro-Blog mit etwa 390.000 Abonnenten zu, dass er da manchmal "ganz schön neidisch" auf die Narren war.
Ye Fu legt gerne alles offen. Er ist überzeugt, dass Offenheit gegenüber sich selbst das Fundament für eine offene Gesellschaft ist. Und er ist überzeugt, dass Demokratie und universelle Werte sich auch in der chinesischen Gesellschaft durchsetzen können.
Auf der Suche nach Glück
Ye lebt in einem gemütlichen Anwesen in der idyllischen Stadt Dali in der südwestlichen Provinz Yunnan. Dort könne er sich ganz seiner Literatur widmen, erzählt er. Durch seine offenherzigen Äußerungen zieht er allerdings immer wieder die Aufmerksamkeit der chinesischen Behörden auf sich. Seine Bücher sind in China zum Teil verboten. In politisch sensiblen Zeiten, wie etwa während des jährlich stattfindenden Volkskongresses, darf er nicht nach Peking reisen. Und: Regelmäßig wird der "wilde Kerl" von der Staatssicherheit zum "Teetrinken" eingeladen - so sind deren inoffizielle Anhörungen häufig umschrieben.
Mittlerweile haben viele chinesische Andersdenkende wie auch sein Schriftstellerfreund Liao Yiwu in Deutschland ein neues Zuhause gefunden. Ye Fu aber will nicht hier bleiben. "Selbst falls der Staat mich noch einmal ins Gefängnis wirft, werde ich zurückkehren", sagt er. "Hier im Ausland komme ich schwer an das Glück heran, was ich in China genieße." Auf die Frage, was für eine Art Glück das sei, antwortet er: "Meine Freunde und das Essen!"