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Politik

Der Winter naht: Wiederaufbau im Norden der Ukraine

Oleh Klymchuk
5. November 2022

Russlands Krieg gegen die Ukraine dauert schon acht Monate. Ein DW-Reporter hat befreite Dörfer nahe der nordukrainischen Stadt Tschernihiw besucht. Wie bereiten sich die Menschen jetzt auf den Winter vor?

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Zerstörte Häuser im Dorf Schestowyzja nahe Tschernihiw
Zerstörte Häuser im Dorf Schestowyzja nahe TschernihiwBild: Oleh Klymtchuk/DW

Der Oktober brachte die erste Kälte, und die Menschen haben es eilig, die vom Krieg zerstörten Häuser wieder aufzubauen. Serhij Medwedew ist Bürgermeister von Schestowyzja, nahe Tschernihiw im Norden der Ukraine. Er sagt, in seinem Dorf seien elf Häuser völlig zerstört und mehr als Hundert beschädigt worden.

"Die Regionalverwaltung hat einigen Dorfbewohnern mit Fenstern und Baumaterial geholfen. Aber es gibt nicht genug Mittel, um alles wieder aufzubauen. Die meisten bauen selbst wieder auf, so gut sie können. Die Preise für Baumaterial haben sich verdoppelt, auch für Benzin. Manche nehmen Kredite bei Banken auf. Das ist sehr teuer. Aber was bleibt ihnen übrig? Andere kommen bei Nachbarn, Bekannten oder Verwandten unter. Doch einige Menschen wissen nicht wohin", sagt Medwedew.

Russische Munition zwischen Häusern

Am meisten zerstört wurde das Dorf dort, wo die Russen militärische Ausrüstung, Tanklaster und Lastwagen mit Munition abgestellt hatten - gleich neben Wohnhäusern. Diesen Konvoi griff die ukrainische Armee am 7. März an. Durch explodierende Munition und Brände wurden fast alle Häuser in dieser Straße zerstört.

Bürgermeister von Schestowyzja Serhij Medwedew neben einem zerstörten Haus
Bürgermeister Serhij Medwedew: "Es gibt nicht genug Mittel, um alles wieder aufzubauen"Bild: Oleh Klymtchuk/DW

"Die Russen kamen am 28. Februar. Aber wir blieben in unserem Haus", erzählt Tetjana Letjaha. Später wurde ihre Familie vom russischen Militär aus ihrem Haus rausgeworfen, worauf sich die Soldaten dort selbst einquartierten. "Wir wollten fliehen, aber die Besatzer erlaubten uns nicht, das Dorf zu verlassen. Also gingen wir zu unseren Freunden hier in Schestowyzja. Als unsere Straße in Flammen stand, waren wir nicht mehr in unserem Haus", erzählt Tetjana.

Am 31. März zogen sich die Besatzer zurück. Daraufhin kehrte sie mit ihrem Mann und ihrem vierjährigen Sohn zu ihrem Haus zurück. Doch leben konnte man darin nicht mehr. Das Dach war zerstört, alle Fenster beschädigt. Zudem hatten die Druckwellen die Wände stark erschüttert und den Ofen des Hauses zerstört, mit dem das Haus beheizt wurde. Ihre Garage samt Auto und eine Scheune waren niedergebrannt.

Hilfe von internationalen Organisationen

"Ein Bekannter hat uns sein Haus für ein Jahr überlassen. Wir wohnen dort und hierher kommen wir, um im Garten zu arbeiten und Reparaturen durchzuführen. Im Sommer half der Dorfrat mit neuen Fenstern. Es kamen auch Vertreter der französischen Hilfsorganisation Acted. Wir hatten uns an sie gewandt und bekamen 26.000 Hrywnja (ca. 700 Euro). Wir legten selbst noch Geld drauf und so konnten wir das Dach reparieren", sagt Tetjana.

Tetjana Letjaha mit ihrem Sohn in Schestowyzja
Tetjana Letjaha mit ihrem Sohn in SchestowyzjaBild: Oleh Klymtchuk/DW

Ihr zufolge hilft den Dorfbewohnern beim Wiederaufbau auch die niederländische Wohltätigkeitsorganisation ZOA. "Wir hatten uns bereits selbst einen Festbrennstoffkessel gekauft. Die Belege reichten wir später bei der ZOA ein, die uns das Geld erstattete. Aber jetzt kommen wir zu nichts mehr. Ich arbeite als Krankenschwester in Tschernihiw und mein Mann schuftet in einem landwirtschaftlichen Betrieb, daher hat er keine Zeit, den Kessel einzubauen. Aber wir müssen es noch vor dem Winter schaffen, außerdem haben wir unterschrieben, dass wir den Kessel in drei Monaten anschließen, das war Bedingung", sagt Tetjana besorgt.

50 Meter weiter repariert Julia Brytan, Lehrerin am Pädagogischen Institut von Tschernihiw, ihr Haus. Als die ganze Straße brannte, war sie mit ihrer kranken Mutter im Haus. "Die Druckwelle war so stark, dass die Heizkörper aus Gusseisen in Stücke gerissen wurden. Der Gaskessel und der Holzofen, der Boden und das Dach, alles wurde von den hohen Temperaturen völlig zerstört. Splitter von Granaten und Minen durchlöcherten die Wände", erinnert sich Julia.

Porträt von Julia Brytan
Julia Brytan bekommt Hilfe aus dem AuslandBild: Oleh Klymtchuk/DW

Ihre Familie bekam Hilfe von der Gemeindeverwaltung, den Organisationen International Medical Corps, World Kitchen, International Relief and Development, vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz und der ZOA. "Das Geld kam in Raten, je nach geleisteter Arbeit. Wir haben zum Beispiel die Fenster erneuert, die Rechnungen abfotografiert und eingeschickt. Man konnte sehen, dass wir das Geld wie angegeben verwendet haben. Später kam noch Geld für die Heizung und das Dach", so Julia.

Bis auf die Grundmauern niedergebrannt

Nicht alle Dorfbewohner können ihre Häuser instand setzen, weil sie völlig zerstört sind. Ein solches Schicksal ereilte die Familie von Nina Radtschenko. Sie und ihr Mann sind Rentner. Sie hatten ein Haus in Schestowyzja, gleich gegenüber von den Letjahas. Nina sagt, sie hätten ihr Haus fünfzehn Jahre lang eigens für den Ruhestand gebaut. Doch am 7. März wurde alles samt Werkstatt und Garage komplett vernichtet.

"Bei uns ist alles zu 100 Prozent zerstört, Eigentum im Wert von 3,5 Millionen Hrywnja (ca. 96.000 Euro). Der Dorfrat hat uns bis zum Winter einen Wohncontainer versprochen. Jetzt heißt es, es fehle das Geld dafür. Mein Mann und ich haben unser ganzes Leben lang gearbeitet, und jetzt sind wir fast zu Bettlern geworden", klagt Nina. Aber sie verzweifeln nicht. Nina arbeitet als Verkäuferin in Tschernihiw und ihr Mann als Elektromechaniker in Schestowyzja. Überwintern werden die Radtschenkos bei ihren Nachbarn, den Letjahas.

Garage als Unterkunft für den Winter

Auch Alla Kyryltschenko aus dem Dorf Saritschne am westlichen Stadtrand von Tschernihiw hat ihr Haus verloren. Saritschne stand zweimal in Flammen, nachdem das Dorf von der russischen Armee unter Beschuss genommen wurde. "In unserem Haus verbrannte am 4. März mein Schwiegervater, als Brandbomben abgeworfen wurden. Meine Kinder und ich waren an jenem Tag nicht dort. Wir wollten ihn noch in ein Pflegeheim bringen. Er war bettlägerig", sagt Alla unter Tränen.

Laut einer Begutachtung durch das Bauamt der Stadt Tschernihiw wurde auch das Eigentum der Kyryltschenkos zu 100 Prozent zerstört. Vertreter der Regionalverwaltung haben der Familie versichert, dass sie aufgrund des Gutachtens ein neues Zuhause bekommen würden. "Auch wir wohnen vorerst bei Freunden in einer Wohnung, wissen aber nicht, wie lange wir dort bleiben können. Wir wollen unsere Garage abdecken und dort überwintern", erzählt Alla. Aus Verzweiflung hat sie ihre Telefonnummer auf einen Betonklotz am Straßenrand gemalt. Manchmal würden sich Menschen melden und helfen. Dafür ist Alla unendlich dankbar.

Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk