Zusammen oder getrennt?
8. Juli 2012Wenn Pascal Thibaut einen seiner seltenen Anfälle von Heimweh hat, geht er in Berlin in ein französisches Kaufhaus, in die Lebensmittelabteilung. Nur dort gebe es in Berlin die süßen Leckereien aus seiner Kindheit, sagt der Journalist, der seit 20 Jahren in Berlin zu Hause ist. Und mittags könne man auch eine Kleinigkeit dort essen, typisch französische Gerichte. Thibaut bestätigt damit eines der klassischen deutschen Klischees über die Franzosen und Frankreich: Gutes Essen, Käse und Wein haben einen hohen Stellenwert, ja, man lebt wie 'Gott in Frankreich'.
Das fällt auch Céline Caro sofort ein, wenn sie überlegt, was Frankreich für Deutsche so attraktiv macht: "Frankreich hat diesen Ruf: Land der Gastronomie." Sie lebt seit zehn Jahren in Deutschland und arbeitet bei einer politischen Stiftung. Inzwischen können auch ihre Familie und Freunde ihre Begeisterung nachvollziehen. Sie erinnert sich noch gut, als sie zum Studium nach Deutschland ging. Das hätten die Franzosen damals als merkwürdig empfunden. Es sei doch langweilig in Deutschland. "Jetzt bin ich in Berlin, und die Franzosen sind begeistert. Berlin ist momentan die schönste Hauptstadt Europas."
Wenn das "savoir vivre" zum Alltag wird
Für Deutsche dagegen ist Paris ein Traumziel, denn hier findet man, so Pascal Thibaut, die 'Leichtigkeit des Seins'. Für Thomas Bork, der seit acht Jahren mit seiner Familie in Paris lebt und für eine internationale Firma arbeitet, ist es das positive Image, das Frankreich genießt und dafür sorgt, dass Deutsche ein gewisses Faible für das Nachbarland haben. Wenn nach der touristischen Eingewöhnungsphase das "savoir vivre" zum Alltag geworden ist, taucht man auch hier in den Arbeitsalltag ein. Und der kann durchaus anders sein als in Deutschland: "Die Deutschen sind planungsorientierter", sagt er und fügt an, dass französische Unternehmen gelegentlich Probleme bei der Implementierung hätten, dafür aber sehr stark im Innovativen, im Kreativen und im strategischen Planen seien. Da könne man durchaus von den Franzosen lernen.
Die in Berlin arbeitende Caro schätzt den offenen Umgang im deutschen Arbeitsalltag, die strukturierte Kommunikation und die organisierte Arbeitsatmosphäre. Sie selber sei in dieser Hinsicht noch sehr französisch, sie arbeite eher kurzfristig und spontan.
Sind das die Unterschiede, hier die "Kopfmenschen", dort die "Gefühlsmenschen"? Diese Einschätzung ist Christiane Deussen, Direktorin des Maison Heinrich Heine in Paris, zu pauschal. In der Berufswelt seien die Deutschen manchmal zuverlässiger und pedantischer, die Franzosen insgesamt spontaner. Aber dass Deutsche prinzipiell effizienter seien, sieht sie nicht. Für Christiane Deussen sind es gerade die Unterschiede zwischen Deutschen und Franzosen, die vieles, vor allem in Europa, bewegen: "Beide ergänzen sich hervorragend." Das war nicht immer so.
Erbfeinde werden zum Motor Europas
Die deutsch-französischen Beziehungen sind vielschichtig - und durch einige historische Turbulenzen gegangen. Erinnert sei an den Krieg von 1870/71, den Ersten und den Zweiten Weltkrieg, die immer wieder zu erheblichen Ressentiments und tiefem Misstrauen auf beiden Seiten des Rheins geführt haben. Die deutsch-französische Versöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch gilt in Europa als vorbildlich. "Nicht zuletzt dank Konrad Adenauer und Charles de Gaulle gibt es diese Kommunikation zwischen unseren Ländern und sorgt dafür, dass diese Beziehung sehr tief geworden ist mit den Jahren", findet Céline Caro. Die beiden Länder hätten verstanden, dass es ihnen "zusammen besser geht als getrennt." Der Elyssée-Vertrag von 1963 hat die Aussöhnung zwischen beiden Ländern institutionalisiert. "Es ist immer ein Wunder, was in der Nachkriegszeit an Versöhnung erreicht wurde", ergänzt Deussen, vor allem wenn man sehe, wie tief die Gegensätze waren.
Petra Sigmund, Pressesprecherin der deutschen Botschaft in Paris, ist fasziniert von der Entwicklung, die die Beziehungen genommen haben: "Der Wert der deutsch-französischen Beziehungen liegt darin, dass wir aufeinander zugehen, obwohl wir in vielen Fragen instinktiv unterschiedlich denken." Die Suche nach Kompromissen sei intensive politische Arbeit, aber am Ende sei das Ergebnis immer deutsch-französisch. Nicht zu unterschätzen sei die Vorbildfunktion dieses Aufeinanderzugehens für Europa, unterstreicht Sigmund. Deutschland selbst jedoch als Modell hinzustellen, das Frankreich zum Beispiel in Wirtschaftsfragen kopieren sollte, geht für sie zu weit: "Jedes Land hat seine politische Kultur und seine Geschichte." Und spricht damit sicherlich vielen Franzosen aus dem Herzen, denen das demonstrative Bekenntnis ihres Ex-Präsidenten Nicolas Sarkozy zu deutschen Erfolgsgeschichten zu weit geht.
Respekt, aber keine Liebe…
Das deutsch-französische Verhältnis ist stabil und krisenfest, dennoch haben beide Seiten ihre eigenen Interessen und wahren diese auch. Die deutsche Botschaft in Paris hat eine Umfrage in Auftrag gegeben, um herauszufinden, wie die Franzosen auf Deutschland blicken. Demnach haben mehr als achtzig Prozent der Franzosen eine positive Meinung von Deutschland.
Nach Ansicht von Thibaut ist das jedoch nicht der verklärte Blick, wie man ihn häufig bei frankophilen Deutschen finde. "In Frankreich gibt es einerseits Bewunderung für die Erfolge der deutschen Wirtschaft, aber auch einen gewissen Neid, weil die wirtschaftlichen Ergebnisse Frankreichs nicht immer so gut sind." Bork sieht das ähnlich und glaubt, dass die Franzosen Deutschland respektieren, aber nicht lieben. Für die Direktorin des Maison Heinrich Heine ist gegenseitiger Respekt besonders wichtig - trotz Konkurrenz und Minderwertigkeitsgefühlen. Das sei eine ewige Konstante in den deutsch-französischen Beziehungen, die aber nicht dramatisiert werden sollte.
… und doch großes Interesse
Viele Franzosen beschäftigen sich mit ihrem historisch nicht einfachen Nachbarn Deutschland, sei es in Politik, Wirtschaft oder Kultur. Sie möchten, so die Pressesprecherin der deutschen Botschaft in Paris, wissen, "wie dieses Deutschland funktioniert". Umgekehrt sei es ähnlich, der Versuch sei immer da, Frankreich zu verstehen.
Das Fundament dafür sind der Austausch und das Kennenlernen auf allen Ebenen der Gesellschaft. Die unzähligen Städtepartnerschaften und die Aktivitäten des deutsch-französischen Jugendwerks sind nur Beispiele dafür. Wenn auf diese Weise Freundschaften entstehen, dann laden der penible Umgang der Deutschen mit ihren Autos, der Karneval oder die Frauenabende die Franzosen allenfalls noch zum Schmunzeln ein. Und Deutsche wundern sich nicht mehr über ausgiebige Feiern zum Nationalfeiertag, stundenlange Geschäftsessen oder die andere Arbeitsweise von Handwerkern.
Pascal Thibaut, der sich als "Otto-Normal-Franzose" bezeichnet, hat seine Einkäufe im französischen Kaufhaus Berlins erledigt und noch schnell ein Mittagessen eingenommen. "Zusammen oder getrennt?" fragt der Kellner, als er die Rechnung bringt. Das würde einem französischen Kellner, pardon, garçon, niemals über die Lippen gehen.