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Das Erbe des deutschen Judentums

15. Juni 2021

Vor der NS-Zeit lebten in Deutschland viele Juden. Sie schufen ein einzigartiges Kulturerbe, das es zu bewahren gilt, sagt Julius H. Schoeps im DW-Interview.

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Julius Schoeps steht im blauen Hemd vor einer Wand mit Texten und Fotos im jüdischen Museum Vilnius
Julius Schoeps forscht seit vielen Jahren zur deutsch-jüdischen GeschichteBild: DW/Rabitz

"Tsurikrufn" ist ein jiddisches Wort und bedeutet "erinnern". So nennt sicheine digitale Plattform, die im Internet deutsch-jüdischer Persönlichkeiten gedenkt, die Deutschland vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten gesellschaftlich, kulturell oder künstlerisch vorangebracht haben. Allerdings sind ihre Namen und ihre Leistungen vielfach in Vergessenheit geraten. Im Erinnerungsjahr "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" haben sich deshalb verschiedene Museen und Kulturinstitutionen zusammengeschlossen, um diese wichtigen deutsch-jüdischen Persönlichkeiten vorzustellen.

Viele von ihnen berufen sich auf Moses Mendelssohn, den wegweisenden deutsch-jüdischen Philosophen der Aufklärung. Einer seiner Nachfahren, Julius H. Schoeps, setzt sich auch heute noch dafür ein, dass das deutsch-jüdische Kulturerbe bewahrt wird. Der 1942 in Djursholm in Schweden geborene Historiker und Politikwissenschaftler ist Gründungsdirektor des Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien an der Universität Potsdam und Vorstandsvorsitzender der Moses Mendelssohn Stiftung. Im DW-Interview erklärt Julius H. Schoeps, wie das Gedenken an dieses Erbe aussehen könnte.

DW: Herr Schoeps, das digitale Erinnerungsprojekt "tsurikrufn.de" stellt jüdische Persönlichkeiten vor, die Deutschland bis 1933 geprägt haben. Musiker, Journalisten, Mediziner, Filmemacher, Anwälte. Was halten Sie von so einem Projekt?

Ich halte sehr viel von Projekten dieser Art, die versuchen, die deutsch-jüdische Beziehungsgeschichte konkreter zu fassen. Und da gibt es verschiedenste Möglichkeiten: Es kann eine Ausstellung sein, es können Bücher sein oder eben auch ein digitales Projekt.

Porträtfoto von Julius H. Schoeps einem braunen Anzug und blauem Hemd.
Julius H. Schoeps ist ein Nachfahre von Moses MendelssohnBild: Moses Mendelssohn Zentrum

Sie setzen sich dafür ein, dass das deutsch-jüdische Erbe bewahrt wird. Was genau ist unter dem deutschen Judentum zu verstehen?

Ja, das ist die Frage, mit der man sich beschäftigen muss. Was war das deutsche Judentum? Ich argumentiere immer so: Das deutsche Judentum ist integraler Bestandteil der deutschen Kultur in jedem Fall bis 1933. Und wenn man sich mit dieser Frage beschäftigt, dann kommt man auf viele Ebenen: Literatur, Musik, Politik, soziale Fragen und so weiter und so fort. Und das zu vergegenwärtigen, ist eine wichtige Angelegenheit.

Können Sie erklären, was dieses deutsche Judentum charakterisierte, womit es sich beschäftigte?

Das ist eine ganz schwierige Frage. Was unterscheidet einen deutschen Juden von einem nichtjüdischen Deutschen? In der Regel gibt es kaum Unterschiede. Die deutschen Juden haben sich genauso gekleidet wie die Deutschen, sie haben entsprechend gleich gedacht, gleich gefühlt. Sie sprachen Deutsch. Und das zu vermitteln, ist unbedingt notwendig. Die Juden waren keine Fremdkörper, allenfalls bei Nationalisten und Völkischen. 

Moses Mendelssohn im gemalten Porträt von Anton Graff im Jahr 1771.
Der Philosoph Moses Mendelssohn gilt als Verfechter eines aufgeklärten JudentumsBild: picture-alliance/akg-images/Erich Lessing

Beriefen sich denn diese gebildeten deutschen Juden, die Sie beschreiben, auf Ihren Vorfahren, den Philosophen Moses Mendelssohn, der die Auffassung vertreten hat, dass es zu einem aufgeklärten Judentum gehöre, sich mit zeitgenössischer Kultur zu beschäftigen?

Moses Mendelssohn gilt als der Vater des deutschen Judentums. Ende des 18. Jahrhunderts setzt dieser Integrations- und Emanzipationsprozess ein, der im 19. Jahrhundert die jüdische Bevölkerung in starkem Maße geprägt hat. Mich hat immer sehr die Frage der demokratischen Bewegungen im 19. Jahrhundert beschäftigt, bei der Juden eine maßgebliche Rolle gespielt haben. Und das ging ja bis Ende der 1870er-Jahre, bis dann völkischer Antisemitismus aufkam. Rassenantisemitismus. Und dann fing das Unglück an.

Handelte es sich um eine kleine Bildungselite, oder wofür interessierten sich die deutschen Juden? Welche Autoren lasen sie?

Die deutschen Juden waren sehr assimiliert. Sie bewunderten Friedrich Schiller, sie bewunderten Goethe und bekannten sich zu Heinrich Heine und Ludwig Börne. Da war eigentlich kein großer Unterschied zu der nichtjüdischen Bevölkerung. Allenfalls Börne spielte bei denen keine so große Rolle.

Für einen Zeitungsartikel haben Sie sozusagen post mortem einen Brief an Theodor Fontane geschrieben und sich darin augenzwinkernd lustig gemacht, dass Fontane in einem Gedicht zu seinem 75. Geburtstag die deutschen Juden lobte, die zu seinem Ehrentag brav erschienen. Während der preußische Adel, den Fontane als engstirnig bezeichnete, fernblieb. Gab es da schon eine gewisse Offenheit der deutschen Juden, die besonders war zu der Zeit?

Eine Büste von Theodor Fontane, im Hintergrund Bäume
Theodor Fontane-Denkmal in Neuruppin Bild: picture-alliance/dpa/J. Kalaene

Damit wollte Fontane sagen, dass sich mehr Juden als Junker für ihn interessieren. Und da ist natürlich auch etwas dran gewesen. Dieses Bildungsbürgertum war stark geprägt von jüdischem Denken und Fühlen.

Wie genau sah denn dieses jüdische Denken und Fühlen aus?

Dieses Denken und Fühlen war, dass man sich zu Deutschland bekannte, aber gleichzeitig immer demokratische Entwicklungen und liberalen Fortschritt mitdachte. Es gab natürlich auch Konservative, also Juden, die für die konservativen Parteien optiert haben. Aber das war die Minderheit. Also ich würde sagen, dieses deutsche Judentum stand links von der Mitte.

War diese Haltung etwas spezifisch Deutsches?

Dieser Integrationsprozess ist etwas spezifisch Deutsches gewesen. Den hat es in anderen Ländern so nicht gegeben.

Warum gab es ihn in dieser Form ausgerechnet in Deutschland?

Es hat einmal mit der Sprache zu tun, damit, dass das Jiddische nicht so weit vom Hochdeutschen entfernt war. Und das spielt eine, wie ich meine, ganz wesentliche Rolle.

Einige deutsche Juden legten sogar ihren jüdischen Namen ab im Zuge dieses Anpassungsprozesses, weil sie sich in Deutschland so verwurzelt fühlten.

Sehr typisch war zum Beispiel, dass viele Juden den Namen Lessing annahmen, sie hießen vielleicht vorher Lesser und nannten sich dann Lessing aus Bewunderung für den Dichter Gotthold Ephraim Lessing. Oder ich habe zum Beispiel mal einen Grabstein auf einem jüdischen Friedhof in Berlin gefunden, wo der Nachname "Deutsch" war. Das zeigt einfach die tiefe Verwurzelung der Juden im deutschen Kultursprachraum.

Den Antisemitismus gab es aber auch schon im 19. Jahrhundert …

Ja, er kommt massiv auf Ende der Siebzigerjahre des 19. Jahrhunderts.

In Berlin wurden auch Salons von deutschen Juden gepflegt. Berühmt war zum Beispiel der Salon von Rahel Varnhagen, zu dem auch viele christliche Bildungsbürger kamen. Wie lange gab es solche Treffpunkte? Und was war das Spezifische dieser Salons?

Das fing Ende des 18. Jahrhunderts an und ging bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts hinein. Diese Salons waren ein Treffpunkt von jüdischen Intellektuellen, Künstlern, Malern, Musikern und Nichtjuden. Und von diesen Salons sind viele Impulse ausgegangen. Auch die Frauenbewegung, also die Emanzipationsbewegung der Frauen, ist in starkem Maße von Jüdinnen im 19. Jahrhundert geprägt worden. Das sind alles Entwicklungen, die heute kaum noch jemand kennt.

Gab es auch einen gewissen Neid der Nichtjuden gegenüber eben diesen doch auch erfolgreichen intellektuellen Juden?

Die Bilder von den Juden sind identisch. Seit dem frühen Mittelalter sind die Juden als Wucherer dargestellt worden. Dann war es jetzt im 19. Jahrhundert der Industrielle und Kapitalist oder Bankier. Die Bilder gleichen sich immer, aber nehmen immer die Gestalt der jeweiligen Zeit, des jeweiligen Jahrhunderts, an.

Außenansicht des Jüdischen Museums in Berlin
Das Jüdische Museum in Berlin: links der Altbau, rechts der Neubau von Daniel LibeskindBild: picture-alliance/dpa

Die deutschen Juden hatten ein ganz anderes Selbstverständnis als die Juden, die heute in Deutschland leben. Worin besteht der Unterschied?

1933 bis 1945 ist ein Bruch. Das deutsche Judentum hört faktisch auf zu existieren mit der Nazizeit und mit dem organisierten Massenmord. Das Judentum, das heute in Deutschland lebt, stammt zum Großteil aus Osteuropa, aus der früheren Sowjetunion, aus Polen, aus Rumänien. Sie stehen in ganz anderen Kulturtraditionen als das deutsche Judentum von vor 1933. Was aber nicht heißt, dass es irgendwann nicht wieder ein neues deutsches Judentum geben wird. Aber das wird ein ganz anderes Judentum sein als das, was wir von vor 1933 kennen.

Wie kommt es, dass das Interesse an diesem deutschen Judentum jetzt offensichtlich zu verblassen scheint? Selbst in Israel wurde darüber diskutiert, das Jeckes Museum in Tefen zu schließen, wo das deutsch-jüdische Kulturerbe gepflegt wurde. Warum interessiert sich niemand mehr dafür? Oder ist dies nur ein Eindruck?

Nein, das ist das eigentliche Problem. Es gibt kein deutsches Judentum mehr, das sich dieses Erbes annehmen könnte. Deswegen vertrete ich ja die These, es ist die Aufgabe der Nichtjuden, sich dieses Erbes anzunehmen. Deswegen begrüße ich auch sehr, dass die Bundesregierung jetzt in Tefen in Israel das Jeckes-Museum retten will. Das soll jetzt an die Universität Haifa gehen. Die Pflege dieses Kulturerbes ist Aufgabe der Nichtjuden.

Wie könnte diese Pflege aussehen? Ist das Erinnerungsjahr "1700 Jahre Juden in Deutschland" eine passende Möglichkeit?

Natürlich. Während der 1700-Jahre-Feier, die jetzt in diesem Jahr begangen wird, beschäftigen sich Nichtjuden eigentlich hauptsächlich mit der Frage der Geschichte.

In Deutschland gibt es das Jüdische Museum in Berlin. Hat das die Aufgabe, das deutsch-jüdische Erbe zu bewahren? Kommt es dieser Aufgabe nach?

Ja, aber es kümmert sich nicht speziell um das deutsch-jüdische Kulturerbe, es ist mehr europäisch konzipiert. Da würde ich die kleineren Museen nennen, in Halberstadt, in Frankfurt, in München, die sich des deutsch-jüdischen Kulturerbes annehmen.

Das Gespräch führte Sabine Oelze. 

Autorin Sabine Oelze
Sabine Oelze Redakteurin und Autorin in der Kulturredaktion