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Das Unglück in Tschernobyl zwang deutsche Politiker zum Handeln

Wolfgang Dick20. März 2013

Kaum ein Unglück hat die Umweltpolitik nachhaltiger geprägt als die Katastrophe im Reaktor Tschernobyl im April 1986. Vor allem in Deutschland hatte die Katastrophe politische Folgen, die bis heute nachwirken.

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(ddp images/AP Photo/Alexander Zemlianichenko)
Ukraine Atomkraftwerk Tschernobyl SchildBild: dapd

Die Hauptnachrichten des deutschen Fernsehens zu dem Unfall im Atomkraftwerk Tschernobyl in der Sowjetrepublik Ukraine unterbrechen im April 1986 eine Art Winterschlaf der Politik. Bis zu diesem Vorfall waren die Restrisiken von Atomkraftwerken zwar bekannt, aber die Tatsache, dass viele Gefahrenquellen weltweit lauerten und dass sie in der damaligen Sowjetunion in direkter Nähe lagen, war in Deutschland verdrängt worden. Selbst das bis dahin schwerste Atomunglück im amerikanischen Harrisburg war schon sieben Jahre her und die USA waren weit weg.

Als die erste Meldung über das Unglück in Tschernobyl im deutschen Fernsehen verlesen wird, liegt das Geschehene bereits einige Tage zurück. Denn die sowjetische Informationspolitik hatte zunächst in gewohnter Weise versucht, den Vorfall totzuschweigen. Und die Bundesregierung unter dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl hatte noch kein Frühwarnsystem mit eigenen Daten und keine funktionierende Infrastruktur, die den Bürgern schnell verlässliche Informationen über akute Gefahren, über Begriffe zur Strahlenmessung wie Bequerel und Millisievert hätte liefern können.

Hilflosigkeit

1986 galt Umweltschutz bei den bundespolitisch Verantwortlichen in Westdeutschland immer noch als lästig. Keine Partei wollte mit dem Thema wirklich etwas zu tun haben, mit Ausnahme der Grünen. Die gab es damals gerade einmal drei Jahre in der Opposition im Bundestag. In Hessen stellten die Grünen immerhin den Umweltminister. Überhaupt war die Umweltpolitik einiger Bundesländer, darunter auch Bayern, weiter als auf Bundesebene. Etliche Gesetze regelten einen sorgsamen Umgang mit der Natur. Anders in der benachbarten DDR: Die hatte zwar lange vor Westdeutschland einen eigenen Umweltminister, aber der folgte den Anweisungen des SED-Politbüros in Ostberlin und der Führung in Moskau.

Die westdeutsche Bundesregierung aus den Konservativen Parteien CDU/CSU und der liberalen FDP hatte die Umweltpolitik noch auf drei Ministerien verteilt. Gesundheits-, Agrar- und Innenministerium waren mit der Situation letztlich überfordert. Als die Wolke mit atomar verseuchten Staubpartikeln Deutschland erreicht, beschwichtigt der damalige Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann zunächst: "Wir messen ständig, und bei uns gibt es überhaupt keine Erhöhung der Radioaktivität." Doch dann gibt es sie doch: erhöhte Strahlenwerte, vor allem in Süddeutschland.

Tschernobyl mahnt: Plakataktion von Bündnis 90/Die Grünen (Foto: dpa)
Plakataktion von Bündnis 90/Die Grünen gegen die deutsche AtompolitikBild: picture alliance / dpa

Symbolpolitik

Kompetenzgerangel und Lücken in Zuständigkeiten führen schließlich dazu, dass nur fünf Wochen nach der ersten Katastrophenmeldung aus Tschernobyl ein bundesweit zuständiges Umweltministerium gegründet wird. Umweltpolitik soll künftig in Deutschland einen größeren Stellenwert eingeräumt bekommen. Lange waren aus Angst vor zu hohen Kosten Misstände im Umgang mit der Umwelt hingenommen worden. Die Politik machte plötzlich eine neue Rechnung auf.

Nicht angepackte Umweltprobleme kosten letztlich mehr, als wenn man sie direkt löst. Klaus Töpfer (CDU) war einer der ersten westdeutschen Umweltminister und später auch Direktor des UN-Umweltprogramms. Er beschreibt die damalige Situation als unverantwortlich. "Bei uns waren Luft und Wasserverschmutzung massiv und wir hatten viele ungeordnete Müll-Deponien. So konnte es nicht weiter gehen." Tschernobyl war sozusagen die Spitze einer Fehlentwicklung und der Auslöser für politische Aktivitäten.

Teilerfolge

Deutschland steuerte um, bald auch ganz Deutschland. Denn 1990 kam die DDR mit der Wiedervereinigung dazu. Gemeinsam schuf man über 2000 Gesetze und Richtlinien, teilweise die strengsten der Welt. Das sorgt in den Folgejahren tatsächlich für reinere Flüsse, klarere Luft, gesündere Baumbestände und einen nachhaltigen Umgang mit der Umwelt. Messwerte unabhängiger Beobachter bestätigen dies. In den letzten 25 Jahren ist das gesamtdeutsche Umweltministerium zudem umfangreich ausgebaut worden. Es erhielt viele zusätzliche Kompetenzen im Bundesamt für Naturschutz, oder im Umweltbundesamt oder im Bundesamt für Strahlenschutz.

Dennoch blieb das Problem des Restrisikos von Kernkraftwerken ungelöst. Die Politik verdrängte das Thema, obwohl Modernisierungen der Atommeiler schon gefordert waren und Teile der Bevölkerung und mit ihr viele Künstler immer wieder mahnten, die Atomkraftwerke abzuschalten. Selbst der langjährige und in der Bevölkerung sehr beliebte Bundesumweltminister Klaus Töpfer konnte in der Atomfrage kaum etwas bewirken: "Ich hab am ersten Tag schon als Bundesumweltminister gesagt, wir müssen eine Zukunft ohne Kernenergie erfinden und vorantreiben. Das ist auch heute noch meine Meinung." Töpfer aber wird ausgebremst. "Der Strom kommt eben nicht aus der Steckdose", heisst es bei den Atomkraftbefürwortern, die keine Alternative sehen wollen.

25 Jahre nach Tschernobyl werden in Süddeutschland immer noch erhöhte Cäsiumwerte im Boden gemessen (Foto: DW)
25 Jahre nach Tschernobyl gibt es in Süddeutschland noch erhöhte Cäsiumwerte im BodenBild: picture-alliance / dpa

Rückschläge

Als 1994 die Lasten der Wiedervereinigung deutlich werden und es wieder darum geht, der Wirtschaft nicht zu viel Kosten zuzumuten, wird Klaus Töpfer abberufen und ersetzt. Durch eine Person, die dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl genehmer erscheint: Angela Merkel, die heutige Bundeskanzlerin. Als Umweltpolitikerin verhält sie sich unauffällig und zurückhaltend, schreiben Journalisten rückblickend.

Die Zögerlichkeiten der Regierung Kohl werden schließlich 1998 abgestraft. Bei der Wahl gewinnen die SPD und die Grünen, jene Partei, die fast 20 Jahre zuvor aus der Umweltbewegung enstanden war. Bundesumweltminister wird Jürgen Trittin von den Grünen. Er verschärft in seiner Amtszeit viele Gesetze nochmals und legt zusammen mit der SPD den Grundstein für Wirtschaftsimpulse im Bereich erneuerbarer Energien. Dass daraus einmal über 300.000 Jobs entstehen würden, war damals noch nicht erkennbar.

Konsequenzen

Heute, 25 Jahre nach Tschernobyl, gibt es wieder eine Regierung aus CDU/CSU und FDP. Allerdings sieht Professor Martin Sabrow vom Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam eine wesentliche politische Veränderung in Deutschland: "Die Technikgläubigkeit der 50er und 60er Jahre ist komplett verschwunden."

Die wesentlichste politische Folge seit Tschernobyl aber ist die Globalisierung der Umweltpolitik. Endgültig scheint begriffen, dass Fehlentwicklungen auf diesem Gebiet eben keine Grenzen kennen - nicht bei der Zerstörung der Ozonschicht der Atmospäre, und erst recht nicht bei radioaktiver Strahlung. Umweltpolitik ist heute international Chefsache. Und eine aufgeweckte Bürgergesellschaft lasse sich nichts mehr vormachen, meint Professor Sabrow: "Der Einsatz für die Umwelt ist heute losgelöst von persönlichen politischen Einstellungen." Heute heisst es mit Blick auf Japan: Das hatten wir doch alles schon einmal in Tschernobyl. Jetzt lautet die politische Stimmung: Es reicht.