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Deutschland: Wenig Interesse an Europawahl

23. Mai 2024

Was im EU-Parlament entschieden wird, hat Folgen für den Alltag und das Leben in Deutschland. Für viele Bürger ist Brüssel trotzdem sehr weit weg.

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Wahlplakat der FDP zur Europawahl | Strack-Zimmermann
Bild: Christoph Hardt/Panama Pictures/picture alliance

"Gehen Sie wählen" - "Nutze Deine Stimme" - "Wer wählt, zählt": An Wahlaufrufen zur Europawahl mangelt es auf Wahlplakaten und in den Medien in Deutschland nicht. In der Bundesrepublik findet sie am Sonntag, 9. Juni 2024, statt. Deutsche Staatsangehörige sowie Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union können ihre Stimme abgeben, sofern sie mindestens 16 Jahre alt und an ihrem Wohnort ins Wählerverzeichnis eingetragen sind. Bis zu 65 Millionen sind das nach amtlichen Angaben. 

Wie viele von ihnen werden tatsächlich wählen gehen? In einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts infratest-dimap für den ARD-Deutschlandtrend geben 48 Prozent der Deutschen an, sie interessierten sich wenig oder gar nicht für die Europawahl. In einer Demokratie ist das ein großes Problem. Auch die Parteien und die Wahlkämpfer bekommen das zu spüren. Sie haben es schwer, bei den Bürgern mit ihren Themen zu landen.

Einsamer Wahlkampf auf dem Land

"Politik und Popcorn" steht auf dem Wahlkampf-Plakat, mit dem die SPD Mitte Mai in einen Kino-Saal in Eberswalde eingeladen hat. In der Kleinstadt im Bundesland Brandenburg, nördlich von Berlin, macht Katharina Barley Station. Sie ist Vize-Präsidentin des EU-Parlaments und erneut deutsche Spitzenkandidatin der SPD bei der Europawahl.

Verstärkt wird sie von Marie Glißmann, einer Sozialdemokratin aus Brandenburg, die ebenfalls für das Europaparlament kandidiert. Die beiden Politikerinnen wollen mit den Bürgern über EU-Politik sprechen und ihnen klarmachen, wie wichtig die Europawahl auch für die ländliche Bevölkerung ist.

Die meisten Sitze bleiben leer

Die SPD in Eberswalde hat den Auftritt der beiden EU-Politikerinnen vorbereitet. 2500 Einladungs-Flyer wurden verteilt, 39 Plakate in der Stadt aufgehängt. Der große Saal im Movie-Magic-Kino wurde angemietet und an der Kino-Bar tütenweise Popcorn bestellt. "Viele werden wahrscheinlich nicht kommen", dämpft der örtliche SPD-Vorsitzende Kurt Fischer im Vorfeld die Erwartungen. Das Wetter sei so schön. 

Wahlplakat zur Europawahl 2024. Vor dem Kino in Eberswalde steht ein Aufsteller mit dem Plakat, das unter der Überschrift "Politik & Popcorn" zum Termin mit Katharina Barley und Marie Glißmann einlädt.
Viel Popcorn wurde in Eberswalde nicht gebrauchtBild: Sabine Kinkartz/DW

Als sich im Verlauf des Abends dann aber gerade einmal 20 Bürger in den langen Sessel-Reihen verlieren, ist Fischer die Enttäuschung doch anzumerken. Ein bisschen mehr Interesse hätte sich der 24-Jährige schon gewünscht. "Eine Bundestagswahl, wo man das Gefühl hat, mitzuentscheiden, wer der Kanzler wird, das zieht einfach mehr."

Im Osten Deutschlands ist die Ukraine ein Reizthema

Was auch "zieht", sind Politiker, die polarisieren. Anfang Mai war Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die FDP-Spitzenkandidatin bei der Europawahl, in Eberswalde. 150 Bürger seien zu der Veranstaltung gekommen, berichtet Fischer. "Und 150 Gegendemonstranten." Strack-Zimmermann, derzeit noch Bundestagsabgeordnete, ist eine streitbare Politikerin und sie will mehr Waffenlieferungen für die Ukraine. Das lehnt im Osten Deutschlands jeder Zweite ab.

Auch Katharina Barley spricht in Eberswalde über die Ukraine. Über den Versuch des russischen Präsidenten Wladimir Putin, die EU zu spalten - auch mit der Hilfe des ungarischen Regierungschefs Viktor Orban. Es sei im Interesse des Kreml, wenn es mehr Nationalisten und Rechtspopulisten in der EU und im Parlament gebe. Die würden kein geeintes Europa wollen und das werde die EU schwächen.

Von Zügen und Wölfen

Die Demokratie in der EU stärken, das ist Barleys großes Thema. Die Bürger zeigen mit ihren Fragen allerdings, dass sie andere Dinge viel mehr beschäftigen. Zum Beispiel der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs in der ländlichen Region. Es dauere manchmal mehrere Stunden, um von der brandenburgischen Landeshauptstadt Potsdam nach Eberswalde zu kommen, beschwert sich eine Frau.

Die SPD-Spitzenkandidatin für die Europawahl, Katharina Barley, und die brandenburgische SPD-Kandidatin für das Europaparlament, Marie Glißmann, stehen zusammen mit dem Lokalpolitiker Kurt Fischer auf einer Bühne in einem Kinosaal. Hinter ihnen sind Wahlkampfplakate aufgebaut. Links im Bild sind die ersten Reihen des Kinosaals zu sehen, in denen verstreut ein paar Menschen sitzen.
Katharina Barley, SPD-Spitzenkandidatin für die Europawahl (Mitte), die brandenburgische SPD-Kandidatin Marie Glißmann und der Lokalpolitiker Kurt Fischer auf der Bühne im KinosaalBild: Sabine Kinkartz/DW

Wölfe sind ein Thema - laut EU-Recht eine streng geschützte Art. In Brandenburg haben sie sich so vermehrt, dass hier inzwischen die weltweit höchste Wolfsdichte herrscht. Vor allem Landwirte macht es wütend, dass sie die Wölfe nicht abschießen dürfen. Mehr als 25.000 Schafe werden in Brandenburg gehalten, die Wölfe brechen regelmäßig in die Herden ein und reißen Tiere. 

Jeder Zweite geht nicht zur Wahl

Eine Steilvorlage für Marie Glißmann, die ihre Popcorn-Tüte abstellt und loslegt. Die Anliegen der Landwirte und der ländlichen Bevölkerung seien ihre Herzensthemen, für die sie sich in Brüssel einsetzen wolle. Beim Thema Wölfe bewege sich was und für den Ausbau des Schienennetzes gebe es EU-Fördermittel. 

Die Zuschauer nicken, doch Begeisterung will in den dünn besetzten Sitzreihen nicht so recht aufkommen. Europapolitik, das sei thematisch für viele zu weit weg, analysiert der örtliche SPD-Politiker Kurt Fischer. Das zeige sich auch bei der Wahlbeteiligung, die bei der letzten Europawahl 2019 in Eberswalde bei nur 45 Prozent gelegen habe. 

Seit Jahrzehnten fehlt die Begeisterung

Fischer hofft, dass es diesmal mehr werden, zumal in Brandenburg - wie in weiteren acht Bundesländern - am 9. Juni auch die Kreistage und Stadtparlamente neu gewählt werden. "Die Menschen gehen eher zu einer Kommunalwahl, wo sie stadtbekannte Gesichter wählen und machen dann parallel auch ihr Kreuz bei der Europawahl."

Die Wahlbeteiligung bei Europawahlen war in Deutschland immer schon niedriger als bei nationalen Wahlen. Einen regelrechten Einbruch gab es in den Jahren 1999 bis 2014, als bundesweit nicht einmal jeder Zweite seine Stimme abgab. Erst 2019 stieg die Wahlbeteiligung wieder auf knapp über 60 Prozent. 

Unzufriedenheit mit SPD, Grünen und FDP

In aktuellen Wahlumfragen zeigt sich, dass die Bürger kaum einen Unterschied zwischen der Europawahl und einer Bundestagswahl machen. Das zeigt sich im aktuellen ARD-Deutschlandtrend zu den Wahlpräferenzen. In beiden abgefragten Fällen führen CDU/CSU, die im Bundestag in der Opposition sind. Die drei in Deutschland regierenden Parteien SPD, Grüne und FDP haben vergleichsweise schlechte Umfragewerte und bekommen offenbar auch bei der Europawahl die Quittung für die hohe Unzufriedenheit mit der Bundesregierung.

Die Umfragen zur Europawahl seien auch von der Stimmung in Deutschland geprägt, bekräftigte der bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende Markus Söder auf dem CDU-Parteitag Anfang Mai. "Natürlich ist das auch eine nationale Wahl, deswegen müssen wir beides zusammen denken." Will heißen: Die Wahlkämpfer der Union sollen europäische und deutsche Themen gleichermaßen ansprechen. 

Vereinfacht wird das, weil die Top-Themen deckungsgleich sind. Im ARD-Deutschlandtrend nannten die Deutschen Anfang Mai das Thema Asyl/Zuwanderung als größtes Problem in der EU, gefolgt von außenpolitischen Konflikt- und Bedrohungslagen. Im April wurde die Frage nach den größten Problemen in Deutschland genauso beantwortet.

AfD: "Unser Land zuerst!"

Die CDU hat auf ihrem Parteitag beschlossen, die Asylpolitik deutlich verschärfen zu wollen. Dahinter steckt auch die Hoffnung, der AfD Stimmen abjagen zu können. Die in Teilen rechtsextreme Partei wirbt im Europawahlkampf mit dem Slogan: "Unser Land zuerst!" Die EU müsse auf eine Wirtschafts- und Interessensgemeinschaft reduziert werden. Einer der politischen Köpfe in der AfD, Björn Höcke, fordert gar, die EU müsse sterben.

Nicht nur in der Politik gibt es dafür Gegenwind, sondern auch aus der Wirtschaft. Mehr als 30 große deutsche Konzerne haben sich in der Initiative "Wir stehen für Werte" zusammengeschlossen. In Videobotschaften appellieren sie an ihre mehr als 1,7 Millionen Mitarbeiter allein in Deutschland, sich bei der Europawahl gegen Hass, Populismus und Extremismus zu stellen. Offenheit und Vielfalt seien Basis des deutschen Wohlstands.

Vorteile nicht selbstverständlich

CSU-Chef Söder beklagt, dass für viele Bürger in Deutschland die Vorteile der EU so selbstverständlich geworden seien, dass sich kaum noch jemand Gedanken darüber mache. Neben wirtschaftlichem Wohlstand, offenen Grenzen und Reisefreiheit habe die EU Deutschland vor allem Frieden gebracht. "Wir spüren erst heute, was das für ein hohes Gut ist angesichts dessen, was außerhalb der EU stattfindet."

EU erklärt: Was sind die Europawahlen?

Die Europawahl bekomme viel zu wenig Aufmerksamkeit. Beim Bürger, aber auch in der Gesellschaft und den Medien. "Stellt euch mal vor, wir hätten jetzt Bundestagswahl oder einen dieser Tage, wo zwei, drei Landtagswahlen an einem Tag sind. Was wäre da für ein Flimmern in der Luft, jeden zweiten Tag würde es Umfragen zu den jeweiligen Wahlen geben und jeden Tag irgendeine Diskussion oder Wahlarena."

Pöbeleien und Angriffe haben zugenommen

Auch in der brandenburgischen Kleinstadt Eberswalde ist die Kommunalwahl viel präsenter als die Europawahl. Das zeigt sich schon an der Anzahl der Wahlplakate. Weitaus mehr werben mit lokalen Themen wie beispielsweise dem Ärztemangel auf dem Land. 

In einem Punkt aber gibt es Schnittmengen: Ob Europa- oder Kommunalwahlkampf, noch nie war die Stimmung gegen Politiker so aggressiv wie jetzt. Kommunalpolitiker Kurt Fischer berichtet von abgerissenen und zerstörten Wahlplakaten, verbalen Angriffen und Pöbeleien. Oft aus der rechtsextremen Ecke: "Da hört man schonmal das Wort Kriegstreiber und auch: Wer hat uns verraten - Sozialdemokraten." Ein Satz, der im Kaiserreich von rechten Kräften  benutzt wurde, später aber auch von den Nationalsozialisten. 

Der Artikel wurde am 21. Mai erstmals veröffentlicht und am 23. Mai aktualisiert.