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Dichter und Lenker

Priya Esselborn27. Juni 2003

Für seine Kritiker ist er ein Träumer und Nationalist. Seine Anhänger loben seinen scharfen Verstand und glänzende Rhetorik: Der indische Premierminister Atal Bihari Vajpayee ist ein Politiker mit vielen Facetten.

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Poet und Premierminister: Atal VajpayeeBild: AP

10. Februar 2002, Neu-Delhi: Mit tosendem Applaus feiern die illustren Gäste aus Politik, Wirtschaft und Showbiz den Künstler, der an diesem Abend sein neues Album präsentiert. Es heißt "Samvedna" (Empfindsamkeit), und der ungewöhnliche Künstler ist Indiens Premierminister Vajpayee. Mehrere hundert Gedichte hat er seit seiner Jugend in Hindi verfasst. Nachdenkliche und melancholische, die sich ausschließlich mit philosophischen Fragen auseinandersetzen, aber auch viele aggressive politische Gedichte. Auf Samvedna hat Indiens populärster Ghazal-Sänger, Jagjit Singh, sechs davon vertont und eingesungen. Weitere sind im Buchhandel als Gedichtsammlungen erhältlich. "Den Kampf zwischen Dichter und Politiker hat der Dichter verloren," kommentiert Vajpayee sein Schaffen lakonisch, "aber der Dichter in mir ist trotzdem noch lebendig."

Seine Gedichte wie auch sein Lebenslauf weisen ihn als glühenden Kämpfer für Bharat Mata, das Mutterland Indien aus. Vajpayee wird am 25. Dezember 1924 in Gwalior im Bundesstaat Madhya Pradesh geboren. Er ist Brahmane und damit Angehöriger der höchsten Hindukaste. Schon sein Vater und Großvater sind Sanskrit-Gelehrte und Dichter: das Dichten nennt er "das Erbe seiner Familie". Seine Kraft schöpft er nach eigenen Aussagen aus dem Hinduismus, seine Berufung ist der Patriotismus.1941 schließt er sich daher einer paramilitärischen Vereinigung an und wird 1942 wegen anti-britischer Aktivitäten zu 24 Tagen Haft verurteilt. Vajpayee macht seinen Magister in Politischer Wissenschaft, ein Jurastudium bleibt ohne Abschluss.

Orangensaft statt Champagner

1957 zieht er erstmals in das Unterhaus (Lok Sabha) ein. Während des von Indira Gandhi (Kongress-Partei) verhängten Ausnahmezustands im Sommer 1975 wird Vajpayee mit 700 weiteren Oppositionspolitikern inhaftiert. Den vorläufigen Höhepunkt seiner politischen Karriere erreicht er 1977: im Kabinett Moraji Desais (Janata-Partei) übernimmt Vajpayee für zwei Jahre das Außenministerium. Eine wesentliche Kursänderung vollzieht er in dieser Zeit nicht: Indien intensiviert die bilateralen Gespräche mit der Volksrepublik China und geht gleichzeitig auf Distanz zur Sowjetunion. Interessanter sind aber die Gerüchte, die sich um seine Auslandsreisen ranken. Traditionell und streng religiös erzogen, soll Vajpayee auf Staatsbanketten niemals Alkohol genossen haben. Voller Schwung prostete er mit Orangensaft den für ihn dekadenten Westlern zu, die beschämt ihren Champagner schlürften.

1980 ist Vajpayee eines der Gründungsmitglieder der Bharatiya Janta Partei (BJP), die einen nationalistischen Hindu-Fundamentalismus vertritt. Achtzehn Jahre später wird Vajpayee der 14. Premierminister Indiens. Nachdem seine Regierungskoalition im April 1999 eine Vertrauensabstimmung verliert, werden Neuwahlen angesetzt. Vajpayee gewinnt erneut und führt mit seiner BJP nun eine Koalition aus 24 Parteien.

Angeschlagener Gesundheitszustand

Kritiker sehen den 78-jährigen Premierminister als gebrechlichen Greis und werfen ihm vor, sein angegriffener Gesundheitszustand würde ihn vom Regieren abhalten. Tatsächlich rührt Vajpayees schlurfender Gang von seinen athritischen Knien, zudem soll er nur noch eine Niere besitzen und wegen Altersschwäche wenig sehen. Nach seinem Wohlbefinden gefragt, antwortet Vajpayee gerne: "Die Frage ist nicht, wie es dem Premierminister geht, sondern wie es dem Land geht!" Doch wenn er eine seiner gefürchteten Reden in Hindi hält, kann er immer noch die Massen begeistern. Dann ziehen sich seine buschigen Augenbrauen zusammen und energisch schwört er seine Anhänger auf seine Linie ein. Obwohl er hervorragend Englisch spricht, zieht Vajpayee Hindi selbst bei internationalen Auftritten vor. Eine in Hindi gehaltene Rede vor den Vereinten Nationen hält er für den glücklichsten Moment seines Lebens.

Viele Gegner im eigenen Land

Vajpayee hat viele Gegner im eigenen Land: unter anderem die meisten Muslime - immerhin etwa zwölf Prozent der Bevölkerung. Sie kritisieren die unterschwellige Islamfeindlichkeit der BJP. Und obwohl Vajpayee selbst sich immer wieder zu einem säkularen Indien mit Religionsfreiheit bekennt und in Wahlreden von den muslimischen Brüdern spricht, sprechen seine Gedichte eine eigene Sprache.

Kompromisslos klagt er sie als grausame Eindringlinge an und bezeichnet Kaschmir als die Krone Indiens, für die er und seine Partei sterben würden. Indien sei das Land der Hindus, deren Kultur geschützt werden müsse. Einen Krieg zwischen Indien und Pakistan gelte es aber zu verhindern, der Preis sei zu hoch. Und auch dass Vajpayee die USA nach den Anschlägen vom 11. September gedrängt hatte, Pakistan als terroristischen Staat zu bezeichnen, haben ihm die indischen Muslime nicht verziehen. Viele von ihnen fühlen sich Pakistan durch die gemeinsame Religion verbunden oder haben noch Verwandte in dem Land. Doch auch unter den Hindus, die niedrigeren Kasten angehören, ist Vajpayee als Brahmane und damit als Angehöriger einer Elite unbeliebt.

Sein politisches Schicksal wird sich bei den Parlamentswahlen 2004 entscheiden. Vielleicht hat der unverheiratete Vajpayee danach wieder mehr Zeit für seine Hobbys: Reisen, Kochen und Lesen. Aber auch gut möglich, dass er erneut aus Sieger aus den Wahlen hervorgeht und auch weiterhin seinem Vornamen Ehre macht: Atal heißt übersetzt soviel wie standfest und unbeweglich.