100 Tage Kretschmann
18. August 2011Winfried Kretschmann will anders sein: Nicht so abgehoben wie sein Amtsvorgänger Stefan Mappus von der CDU, und nicht so schrill wie manch andere grüne Politiker. Kretschmann will nah dran sein an den rund 10,5 Millionen Baden-Württembergern. Der erste Ministerpräsident der Grünen gibt sich bodenständig, bürgernah und heimatverbunden. Er beschreibt sich selbst als "leidenschaftlichen Provinzpolitiker".
Dienstvilla - nein Danke!
"Wir werden versuchen, dieses Land mit Besonnenheit, Maß und Mitte zu führen", hatte Kretschmann zum Amtsantritt vor 100 Tagen angekündigt. In seine Dienstvilla zog Kretschmann gar nicht erst ein: Zu groß, zu pompös. Stattdessen will sich der ehemalige Lehrer eine Wohnung in der Stuttgarter Innenstadt mieten. Auch einen neuen, umweltfreundlicheren Dienstwagen hat sich der 63-jährige Grüne bestellt.
Bei vielen Baden-Württembergern kommt die unaufgeregte, landesväterliche Art ihres neuen Ministerpräsidenten gut an. "Sympathisch", "leise", "nachdenklich", "besonnen" - so beschreiben die Menschen ihre ersten Eindrücke von Kretschmann.
Anerkennung auch vom politischen Gegner
Der Grüne sei ein "Sympathieträger, weil er authentisch und in jeder Beziehung glaubhaft ist", sagt der Tübinger Politikwissenschaftler Hans-Georg Wehling. Der Ministerpräsident schlage Brücken - und danach sehne sich die Bevölkerung. Selbst Erwin Teufel (CDU), ein ehemaliger Ministerpräsident Baden-Württembergs, und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), lobten öffentlich die besonnene Art Kretschmanns.
Auch die Opposition im Stuttgarter Landtag tut sich schwer mit Kritik an dem bekennenden Katholiken Kretschmann: "Ich mag ihn eigentlich", sagt Karl Wilhelm Röhm, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der CDU in Baden-Württemberg, "er ist ein netter Mensch". Der Grüne könne gut zuhören. Von politischer Führung habe er bei Kretschmann allerdings bisher wenig gemerkt.
Dauerbrenner "Stuttgart 21"
Im überhitzten Streit um das Bauprojekt "Stuttgart 21" verfolgt Kretschmann einen eher moderierenden und besonnenen Politikstil. Die andauernden und teils gewaltsamen Auseinandersetzungen um den geplanten Neubau eines unterirdischen Hauptbahnhofs in der Landeshauptstadt Stuttgart hatten schon die Machtübernahme der grün-roten Koalition in Baden-Württemberg überschattet, nun spaltet das Milliardenprojekt die Koalition: Die SPD ist dafür, die Grünen sind dagegen.
In den Koalitionsverhandlungen war erst nach zähem Ringen ein Kompromiss erzielt worden. Jetzt soll das Volk das letzte Wort über "Stuttgart 21" haben. Eine Zerreißprobe, denn im Vorfeld des Volksentscheides müsste der grüne Regierungschef gegen seinen sozialdemokratischen Koalitionspartner Wahlkampf machen. Dabei ist unsicher, ob der Volksentscheid überhaupt im Sinne der Grünen (und der Bahnhofsgegner) ausgehen wird: Es ist nämlich fraglich, ob tatsächlich die erforderlichen rund 2,6 Millionen Bürger gegen "Stuttgart 21" votieren werden.
Es könnte nämlich auch passieren, dass in der Abstimmung zwar eine Mehrheit gegen "Stuttgart 21" stimmt, das Projekt aber wegen einer zu geringen Wahlbeteiligung trotzdem gebaut wird. Ob die Demonstranten, die den Grünen jenen Zulauf bescherten, der Kretschmann ins Regierungsamt hob, dafür Verständnis haben werden, bleibt abzuwarten. Ebenso abzuwarten bleibt, ob die Bahnhofsgegner einen für sie negativen Ausgang des Referendums akzeptieren und sich einer Mehrheitsentscheidung beugen werden. Es ist also offen, ob der Konflikt befriedet wird.
Selbstzufriedenheit bei Grün-Rot
Trotz der andauernden Querelen um "Stuttgart 21" hält die grün-rote Landesregierung selbst ihren Einstieg ins Amt für gelungen. "Ich finde, wir sind gut gestartet", sagte Ministerpräsident Kretschmann jetzt bei einer Bilanzpressekonferenz in Stuttgart. Auch sein Stellvertreter Nils Schmid (SPD) resümierte, dass die Regierung in den ersten 100 Tagen ihre Handlungsfähigkeit bewiesen habe.
Es sei nicht einfach gewesen, nach der knapp 58-jährigen Regentschaft der CDU die Regierung im Land zu übernehmen, räumte Kretschmann ein. "Obwohl wir ganz neu beginnen mussten, konnten wir wichtige Akzente setzen", sagte er und nannte als Beispiel die Mitgestaltung des Atomausstiegs.
Problemfall EnBW
Die Energiewende ist ein wichtiges Ziel der Landesregierung. Bis 2020 sollen zehn Prozent des Stroms im Ländle aus eigener Windkraft erzeugt werden. Ein Gesetzentwurf ist auf den Weg gebracht. Größtes Problem der Koalition in diesem Bereich ist der Stromkonzern Energie Baden-Württemberg (EnBW). Der gehört zwar fast zur Hälfte dem Land, lebt aber vor allem von den Einnahmen aus seinen Atomkraftwerken. Der Umbau des Konzerns hin zur alternativen Stromerzeugung wird also teuer - auch für das Bundesland Baden-Württemberg als Miteigentümer.
Die Übernahme des Unternehmens durch das Land hatte noch Kretschmanns Amtsvorgänger Stefan Mappus (CDU) eingeleitet, die Kosten sollten eigentlich durch die Dividenden getragen werden. Durch den Atomausstieg und die notwendige Umstrukturierung des Unternehmens könnte das nun aber schwierig werden.
Generell herrschte in der Wirtschaft eine gewisse Skepsis, als die neue grün-rote Regierung die Geschäfte übernahm. Inzwischen hat sich das Verhältnis von Landesregierung und Unternehmen deutlich verbessert. Zwar war Kretschmann mit seinem Zitat "weniger Autos sind natürlich besser als mehr" zunächst bei der im Land starken Autoindustrie angeeckt, betrieb aber später Schadensbegrenzung:
Medienwirksam ließ er sich bei einem Besuch im Porsche Werk in einem Elektro-Sportwagen chauffieren. Dann lobte Kretschmann die Entwicklungsarbeit des Autobauers. "Wir sind keine Freunde, aber wir sind gute Partner geworden", resümierte Uwe Hück, der Chef des Porsche-Betriebsrates.
Rückenwind für Regierungswechsel im Bund?
Auf der Haben-Seite ihrer 100-Tage-Bilanz führt die Koalition auch das neu geschaffene Integrationsministerium an, geführt von der Deutsch-Türkin Bilkay Öney (SPD). Damit sei ein Akzent für ein weltoffenes Baden-Württemberg gesetzt worden, erklärte Finanzminister Nils Schmid. Außerdem können die Koalitionäre auf die Abschaffung der Studiengebühren verweisen, die auf den Weg gebracht wurde.
Historisch war der Machtwechsel in Stuttgart tatsächlich, denn zum ersten Mal wurde ein Politiker der Grünen zum Ministerpräsidenten eines deutschen Bundeslandes gewählt.
Die Grünen hoffen nun trotz des von den Querelen um "Stuttgart 21" überschatteten Starts der ersten Landesregierung unter grüner Führung auf Rückenwind aus Stuttgart für weitere Regierungswechsel - in anderen Bundesländern und vielleicht sogar auf Bundesebene. Die Umfragezahlen der Ökopartei im Bund sind gut: Würde jetzt ein neuer Bundestag gewählt, so hat das Meinungsforschungsinstitut Forsa errechnet, kämen die Grünen auf 21, die SPD auf 26 Prozent. Und das wäre genug für eine rot-grüne Mehrheit im Bundestag.
Autor: Nils Naumann (dapd, dpa)
Redaktion: Hartmut Lüning