Die aufdringliche Republik
4. November 2014Langsam zuckelt die Bahn bergan, lässt den Fluss hinter sich und mit ihr die Stadt an dessen Ufer. Mühsam geht es bergan, langsam genug, um den Blick quer durch den dunklen Abend in die erleuchteten Häuser freizugeben. Wie in einem Ausschnitt huschen die einzelnen Interieurs vorbei: Räume, Personen, private Szenen.
Es scheint, als wären sie ganz bei sich, die Bewohner der Villen oberhalb der Elbe im Loschwitz, einem von Dresdens feineren Vierteln - sofern man das über Stadtviertel zur Zeit der Deutschen Demokratischen Republik, der DDR, überhaupt sagen kann. Denn wenn der Sozialismus ein Anliegen hat, dann ist es dieses: Dass kein Menschen vornehmer als der andere sei. Und darum auch keine vornehmeren Häuser bewohnen dürfe als alle anderen. So jedenfalls will es die Theorie.
Ein Zauberberg im Sozialismus
Und darum täuscht der Eindruck des Privaten. Denn die Theorie will noch etwas, und das setzt sie durch: Dass nämlich die Menschen für den Staat da sind (und dann erst der Staat für die Menschen). FÜR SOZIALISMUS UND FRIEDEN - dieser Slogan, stellvertretend für viele andere in der DDR, findet sich, freilich ironisch gebrochen, bereits auf einer der ersten Seiten von Uwe Tellkamps Roman "Der Turm" (2008).
Der Turm, das ist jenes Villenviertel hoch über der Dresdner Elbe - eine leicht enthobener Ort wie die Kuranstalt in Thomas Manns "Zauberberg". Mit dem Unterschied allerdings, dass der Staat rund um den Turm allgegenwärtig ist. Und das Leid dieser Turminsassen gründet genau darin: Dass sie sich dem Staat nicht entziehen können, sondern sich ihm anpassen und unterwerfen müssen.
Geht es gut, werden sie durch Konformität wenigstens unscheinbar. "Nemo" heißt darum eine der Figuren - das ist Latein und heißt "Niemand". Der Mensch ist für den Staat ein Niemand, er fällt nicht auf - und bewahrt sich so seine Privatsphäre. Wie es aussieht, wenn man auf solche Weise leben muss, ist das Thema von Tellkamps großem Roman.
Flucht in die Zukunft
Aber hätte man anders leben können? Schwerlich. Was bleibt, ist die Flucht - die Flucht in den Westen. In ihrem Roman "Aus dem Schneider" (2000) hat Katrin Askan, die 1986 im Alter von 20 Jahren selbst aus der DDR nach West-Berlin floh, ihre Erlebnisse und Eindrücke fiktional verarbeitet. Im mausgrauen, von bleierner Langeweile niedergedrückten Ostdeutschland hält die Protagonistin des Romans es nicht mehr aus. Sie muss weg, anderswohin.
Die DDR ist für sie ein Grab - die junge Frau aber will leben: "Ich weiß, dass ich die, die ich sein möchte, nur an einem anderen Ort, unter anderen Bedingungen sein kann." Unmittelbar vor der Flucht in einem präparierten PKW lässt die Protagonistin die Vergangenheit noch einmal an sich vorüberziehen: das Haus der Großvaters, das, im östlichen Teil Berlins gelegen, die Familie nach dem Mauerbau festhielt und so zu Bürgern der DDR machte; der Versuch, sich zurechtzufinden unter der Diktatur; die Apathie der Familie, die letztlich aus Verzweiflung verstorbene Mutter.
Die Erinnerungen sind bitter - und geben dem Leser einen Eindruck von den Gründen, die allein zwischen 1976 und 1988 fast 60. 000 Menschen dazu trieb, die Flucht aus der DRR zu wagen. 40.000 von ihnen schafften den Grenzübertritt nicht: Sie wurden verhaftet, mehr als hundert Menschen wurden erschossen.
"Honeckers kleiner Trompeter"
Aber wie hat die DDR sich so lange halten können? Aufgrund eines nach innen hochgerüsteten Staats - und aufgrund einer perversen Massenpsychologie. Die beleuchtet Thomas Brussig in seinem wunderbar ironischen Roman "Helden wie wir" (1995). Die Helden - das sind die Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes, kurz Stasi, die über Jahrzehnte die Bevölkerung ausspionieren, drangsalieren und ängstigen - und die dann, im Herbst 1989, als die DDR zusammenbricht, zu "Helden" werden wollen: Helden der Freiheit, die insgeheim, so jedenfalls sähen sie es gern, auf das Ende der Diktatur hin gearbeitet hätten.
Mit dem Ich-Erzähler Klaus Uhltzscht - der schwer aussprechbare und darum leicht absurd wirkende Nachname deutet bereits auf dessen verschrobenen Charakter hin - hat Brussig eine Figur erschaffen, die in ihrer Unsicherheit, ihrem gleichzeitigen Größenwahn und Beflissenheit perfekt in die bizarre Welt der Stasi passt. Unendlich gelangweilt von der eintönigen Agententätigkeit, sieht er im November 1989 die Chance, ganz groß rauszukommen: Er, "die Stasifresse, der Perverse, Honeckers Kleiner Trompeter", wie er sich selber nennt, behauptet schließlich allen Ernstes, er allein habe die Berliner Mauer zum Einsturz gebracht.
Ein Roadmovie
Tatsächlich verlief es natürlich ganz anders: Im Sommer 1989 öffnen die Ungarn die Grenze, genauer: die Sperranlagen nach Österreich. Tausende DDR-Bürger machen sich auf den Weg Richtung Ungarn - so auch Evelyn, kurz Evi. Soeben hat sie ihren Freund Adam verlassen, einen Damenschneider, der mit seinen Arbeiten die Herzen seiner Kunden regelmäßig erobert. Der aber doch von Evi nicht lassen kann, und ihr darum nachsetzt.
Ingo Schulze hat mit "Adam und Evelyn" (2008) ein - schon die biblischen Namen deuten es an - mythisch leicht angereichertes Roadmovie geschrieben. In der flirrenden Hitze des Sommers 1989 fahren beide zunächst gen Osten, nach Ungarn, von dort aus aber Richtung Westdeutschland, wo die Freiheit zu Hause ist. Doch die Freiheit ist ähnlich kompliziert wie die Erkenntnis: beide bieten vergiftete Äpfel an. Nach deren Genuss sieht die Welt auf einmal ganz anders aus: Sie ist schwieriger, komplexer geworden, stellt alle, die vom Apfel naschen, vor Herausforderungen ganz neuer Art. Niemand ahnt das deutlicher als der furchtsame Adam, der die neue Freiheit nur mit Vorbehalten genießen will: "Ausprobieren, na wunderbar, und wenn es schiefgeht?"
Trotzdem - zunächst ist man mal da. Da, wohin man immer wollte, die ganzen, beinahe 30 Jahre lang, die die Mauer stand. Am 9. November 1989 fiel sie. Warum sie fallen musste, erklären auf ganz unterschiedliche Arten die vielen Romane der Wendezeit.