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Die dritte Chance der Ukraine

Birgit Görtz2. April 2014

Die Schriftsteller Jurko Prochasko und Serhij Zhadan sind sich einig: 2004 sei die Orangene Revolution verebbt, die Menschen seien einfach zur Tagesordnung übergegangen. 2014 müsse die Gesellschaft dran bleiben.

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Die Flagge der Ukraine und Demonstranten
Bild: Reuters

Was in den vergangenen vier Monaten in der Ukraine passiert ist, passiert sonst in vier Jahren nicht, findet Jurko Prochasko. Er kommt ganz aus dem Westen der Ukraine, aus Lviv/Lemberg. "Das war wie ein Zeitraffer", sagt er. So dicht seien die Ereignisse, so intensiv die Erlebnisse. Man merkt ihm an, wie nahe ihm das alles geht: die Toten, das vergossene Blut, die russische Bedrohung. Mit Kopfschütteln registriert er, dass Europa herumeiert, die – wie er sagt – Realitäten nicht anerkennt. "Es kam uns von Anfang an darauf an, eine Revolution zu machen. Keine Rebellion, keinen Umsturz, keine Auflehnung, keinen Tumult, keinen faschistischen Putsch!"

Er würde sich freuen, wenn der Westen von der "Revolution" in seinem Land spricht, und nicht von "Krise" oder dergleichen. Denn der Maidan habe für nichts weniger als eine Revolution gekämpft. Eine Revolution der Zivilgesellschaft gegen das alte System von Korruption, Vetternwirtschaft und Willkürstaat - für Demokratie, Rechtsstaat und Wirtschaftsreformen. Zwei Mal habe die Ukraine die Chance auf Wandel schon vertan. Die erste Chance habe sich nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991, die zweite nach der Orangenen Revolution von 2004/2005 ergeben. Serhij Zhadan, Schriftsteller und Rockmusiker, stammt aus dem Osten der Ukraine, aus Charkiw. Er erinnert sich noch gut daran, wie es nach der Orangenen Revolution war. "Damals war es wie bei einem gigantischen Rock-Festival. Alle standen zusammen auf dem Maidan, der Präsident trat ab, Juschtschenko übernahm die Macht - und alle gingen nach Hause.“

Dieses Mal gehen die Ukrainer nicht zur Tagesordnung über

Was dann nach der Orangenen Revolution geschah: Das Land machte eine Rolle rückwärts. Alter Wein in neuen Schläuchen: Es gab zwar einen Machtwechsel, aber keinen gesellschaftlich en Wandel. Wieder Kleptokratie, teils mit altbekannten, teils mit neuen Köpfen. Zhadan mobilisiert, singt, schreibt, dichtet, damit das nicht wieder passiert. Dass ihn ein prorussischer Mob in Charkiw krankenhausreif geschlagen hat, hält ihn nicht auf. Nein, dieses Mal gehen die Ukrainer nicht nach Hause. "Sie wissen, dass der Kampf längst nicht vorbei ist, sondern gerade erst angefangen hat." Er glaubt, dieses Mal bleibe die Zivilgesellschaft wach, denn 2014 ist der Preis für die Revolution viel höher, Hunderte kamen um, Tausende wurden verletzt. Dem Land stehe ein hartes Stück Arbeit bevor. "Jetzt beginnt der ermüdende Kampf für den Wiederaufbau des Landes. Wir müssen das Land verändern", meint Zhadan. Die beiden Schriftsteller Serhij Zhadan und Jurko Prohasko berichteten am Montag (31.03.2014) auf einer Podiumsdiskussion der Akademie der Künste in Berlin über die aktuelle Lage in der Ukraine.

Schriftsteller Serhij Zhadan Ukraine auf der Buchmesse Leipzig 2014 (Foto: Olga Kapustina)
Der ukrainische Schriftsteller Serhij ZhadanBild: Olga Kapustina

Diese müsse mit einer gehörigen Portion Realismus betrachtet werden. Denn sie ist desolat, die Wirtschaft liegt am Boden, der Staat ist so gut wie pleite. So gesehen, stehen die Chancen 2014 für einen echten Wandel ungleich schlechter als nach der Orangenen Revolution. Zu den wirtschaftlichen Problemen kämen schließlich geopolitische Probleme hinzu. "2004 hat Russland nicht die Unabhängigkeit der Ukraine bedroht", sagt Zhadan. Faktisch stünden die Ukraine und Russland an der Schwelle zu einem Krieg. Dennoch: "Ja, uns stehen schwierige Zeiten bevor, aber diese dritte Chance ist meiner Ansicht nach die letzte Chance."

Die besondere Verantwortung der Künstler

Jurko Prochasko findet, die Menschen in der Ukraine wären nun weiter als 2004. Den Menschen auf dem Maidan sei jetzt klar, dass die Zivilgesellschaft dran bleiben, den Politikern auf die Finger schauen muss. Dabei kommt den Künstlern eine besondere Verantwortung zu, findet Schriftsteller Jurko Prochasko. Mit der ihnen eigenen Sensibilität sollten sie so etwas wie ein Barometer der Volksseele sein: "Sie können mit diesem Gespür warnen, wenn sich die Dinge in eine falsche Richtung entwickeln." Serhij Zhadans machte schon in der Vergangenheit die Auseinandersetzung mit den politischen und gesellschaftlichen Realitäten des Postkommunismus zu einem roten Faden in seinen Werken. In den vergangenen vier Monaten bezog er allerdings noch stärker Stellung. "In der aktuellen Lage ist es für meine Leser wichtig zu wissen, welche Position ich vertrete. Deshalb bringe ich mich schon sehr stark ein."

Jurko Prochasko, ukrainischer Schriftsteller, Übersetzer und Publizist am 31.03.2014 in der Berliner Akademie der Künste (Foto: Birgit Görtz)
Jurko Prochasko, ukrainischer Schriftsteller, Übersetzer und PublizistBild: DW/B. Görtz

Künstler genießen in Osteuropa von jeher große Autorität als politische und gesellschaftliche Instanz. "Ich glaube, dass die Kulturschaffenden mehr Vertrauen genießen als die Politiker, denn viele von ihnen sind seit langem diskreditiert", sagt Zhadan. Serhij Zhadan und Jurko Prohasko sind sich einig: Die Künstler können und sollen eine besondere Rolle dabei spielen, ein so heterogenes Land wie die Ukrainer zu einen.