Die DW wird 70 - und gewinnt an Bedeutung
10. Mai 2023"Der rote Ausreisestempel in meinem Pass macht den Weg frei", so berichtete Juri Rescheto Anfang März 2022. "Raus aus der Russischen Föderation, rein in die EU. Kurz vor Mitternacht darf ich das russische Staatsgebiet verlassen."
In einer kalten Winternacht überquerte Rescheto, Leiter des Moskauer Studios der Deutschen Welle, vor 14 Monaten auf einer langen Brücke den Grenzfluss zwischen dem russischen Iwangorod und der estnischen Stadt Narwa. Als letzter der in Russland tätigen deutschen DW-Mitarbeiter. Er verlässt das Land, das seine Arbeit und seinen Arbeitgeber verboten hat. Die DW ist für die Führung im Kreml "ausländischer Agent".
"Der Druck ist enorm groß"
In diesen Tagen wird die Deutsche Welle 70 Jahre alt. Und das Beispiel der in Russland tätigen Kolleginnen und Kollegen zeigt: Weltweit geraten Medien unter Druck, auch Kolleginnen und Kollegen der DW. "Der Druck auf die Pressefreiheit ist enorm groß, und deswegen ist unsere Aufgabe nach wie vor so enorm wichtig", sagt DW-Intendant Peter Limbourg.
Die DW-Abteilung "Travel Security and Emergencies" registriert in jüngerer Zeit so viele Anfragen wie nie. Dabei kann es auch mal um Probleme bei einer rechtsextremen Demonstration in Deutschland gehen. Aber vor allem ist es die Sorge um Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in anderen Teilen der Welt, in Russland und Afghanistan, in einzelnen Ländern Afrikas und Lateinamerikas. Mal wird nach Angaben der "Emergency"-Kollegen jemand kurzfristig inhaftiert, mal gibt es einen mysteriösen Überfall. Immer läuten die Alarmglocken.
Meist werden solche Fälle in Deutschland gar nicht bekannt. Selten ist dies anders. Anfang Februar mussten Jaafar Abdul Karim, der prominenteste Kopf des arabischen Programms der DW, und sein Team eine in Bagdad geplante Produktion nach Drohungen absagen und den Irak rasch verlassen. Sie seien, so Abdul Karim, von hohen irakischen Verantwortlichen mehr und mehr unter Druck gesetzt worden.
Das ist Teil der DW-Medienwelt 2023. Sie begann vor 70 Jahren mit staatstragenden Worten. "Geehrte und liebe Zuhörerinnen und Zuhörer im fernen Lande…" Mit einer Begrüßungsansprache von Bundespräsident Theodor Heuss ging die Deutsche Welle am 3. Mai 1953 auf den Äther. Es ging, hieß es zum Programmstart, darum, "den Hörern im Ausland ein politisches, wirtschaftliches und kulturelles Bild Deutschlands zu vermitteln".
Als Kurzwellensender machte sich die DW von Köln aus an diese Aufgabe und erreichte, zunächst allein in deutscher Sprache, eine Zuhörerschaft in vielen Teilen der Welt. Bereits 1954 kamen erste Fremdsprachen hinzu. 1992 folgte das Fernsehen, bald darauf das Online-Angebot.
Die Kurzwelle-Zeiten sind seit langem vorbei. "Wir haben die Digitalisierung angepackt, wir haben die Strategie klar gezogen. Wir sind ein internationales Medienhaus mit klarer Fokussierung auf Nutzende geworden", sagt Intendant Peter Limbourg. Heute setzt der Sender verstärkt auf das Internet, auf Social Media und Partner-Netzwerke. Limbourg steht seit neuneinhalb Jahren an der Spitze des Senders und hat die internationale Bedeutung gestärkt.
Von Zuhörern zu Followern
Hinter dem Begriff "Sender" stehen Produktionen und Angeboten, die breit gefächert sind: Fernsehprogramme, diverse Audio-Angebote sowie Online-Nachrichten in 32 Sprachen und vielfältige Social-Media-Aktivitäten. Smartphones werden als Endgerät immer wichtiger. Die Zuhörer von einst sind heute meist junge Follower.
Was innerhalb Deutschlands nur wenige wissen: Die DW Akademie ist Deutschlands führende Organisation für internationale Medienentwicklung. Sie hat seit 1965 Zigtausende journalistische Fachkräfte geschult. So treffen auch deutsche Politikerinnen und Politiker im Ausland gelegentlich Gesprächspartner, die von ihrer Prägung durch die Deutsche Welle erzählen.
Zum 70. Jahrestag ähnelt manches der politisch schwierigen globalen Lage der Gründungszeit. Wieder ist von einem Kalten Krieg die Rede, die Meinungs- und Pressefreiheit ist weltweit gefährdet.
"Der internationale Journalismus steht vor der großen Herausforderung, dass er erreichbar bleiben muss und zugänglich für die Menschen, weil Autokraten weltweit sich bemühen, uns zu blockieren, manchmal sogar zu zensieren, und ich glaube, das ist etwas, was den internationalen Journalismus bedroht", sagt Intendant Limbourg. "Hier müssen wir alle, die wir an demokratische Werte glauben und die wir für Pluralität in der Welt eintreten müssen, zusammenarbeiten, damit wir eben weiter für unsere Nutzenden, die Menschen, die uns brauchen, auch wirklich erreichbar sind." Das sei "die Hauptherausforderung, der wir uns stellen müssen".
Gegen Rassismus, Antisemitismus und Diskriminierung
Ende 2021 erreichten den Sender Vorwürfe beim Thema Antisemitismus. Es ging um Äußerungen auf Social-Media-Accounts einzelner Mitarbeiter der arabischen Redaktion und um die Ausrichtung von Partnersendern. Auch redaktionelle Fehler bei der Israel-Berichterstattung im aktuellen Programm wurden diskutiert.
Auf die Vorwürfe, so Intendant Limbourg, habe die DW entschlossen und "unmittelbar reagiert und dies extern überprüfen lassen". Von mehreren Personen habe man sich getrennt. "Denn für solch ein Gedankengut ist in der DW kein Platz. Die unabhängige Untersuchung hat allerdings auch bestätigt, dass die redaktionellen Angebote der DW in dieser Hinsicht ohne Tadel sind." Der Intendant verweist auch auf eine Reihe von verpflichtenden Schulungs- und Dialogformaten, "mit denen wir alle Mitarbeitenden der DW erneut für das Thema sensibilisieren und die Werte vermitteln, für die wir hier gemeinsam stehen". Die DW will ein klares Signal setzen gegen Rassismus, Antisemitismus und Diskriminierung.
"Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind der Schlüssel zum Erfolg der Deutschen Welle", heißt es im DW-Leitbild. An den beiden Standorten Bonn und Berlin sind derzeit rund 3700 Kräfte mit mehr als 60 Nationalitäten tätig. Damit ist der Sender so multikulturell aufgestellt wie wohl keine zweite Einrichtung in Deutschland. Die Zahl der Korrespondentenplätze in Afrika, Asien und Lateinamerika ist in den vergangenen Jahren gewachsen.
"Man hört uns"
Mit Blick auf seine bisherige Amtszeit betont Limbourg: "Wir haben es geschafft, das Budget deutlich anzuheben." Derzeit droht in den Häusern an beiden Standorten der Wegfall zahlreicher Stellen. Wenn global der Druck auf Demokratie und Medienfreiheit wächst, steigen die Herausforderungen, auch die Kosten.
So ist seit Beginn der russischen Aggression immer eine ganze Reihe von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zur Berichterstattung in der Ukraine, immer wieder auch im Osten des Landes. Und Juri Rescheto, der bis zum März 2022 das Moskauer Studio der DW leitete? Er führt mittlerweile als Studioleiter das Ende 2022 in der lettischen Hauptstadt Riga eingerichtete DW-Studio.
"Wir sind da, wir sind nicht tot und nicht verstummt, nicht abgeschafft", sagt er. In Riga könne das Team frei arbeiten, "hier können wir sagen, was wir sagen wollen". Und er wisse: "Man hört uns, man sieht und man liest uns."