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Proteste in Siliana

Sarah Mersch1. Dezember 2012

Wütende Demonstrationen gegen die lokalen Behörden und Polizisten, die hart durchgreifen: Die Situation in Siliana erinnert an den Dezember 2010, als in Tunesien die Proteste losbrachen, die zur Flucht Ben Alis führten.

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Demonstranten bei einer Kundgebung vor dem Gewerkschaftsgebäude in Siliana (Foto: DW)
Bild: Sarah Mersch

Die Straße nach Siliana ist schlecht. Seit 2010 soll sie in Stand gesetzt werden, doch nichts passiert, und die Nationalstraße ist seit Wochen gesperrt. Eine holprige Landstraße führt in die 25.000-Einwohnerstadt im Norden Tunesiens, die seit Anfang der Woche bestreikt wird. Die Gründe für die Proteste sind ähnlich gelagert wie schon bei den Aufständen vor zwei Jahren: Armut, Arbeitslosigkeit und Wut gegen die regionalen Behörden. "Die wirtschaften das Geld in die eigene Tasche", so der Vorwurf der Demonstranten.

Der Gewerkschaftsverband UGTT fordert den sofortigen Rücktritt des Gouverneurs, den die Koalitionsregierung der Ennahdha-Partei Ende Februar eingesetzt hatte. "Er spricht davon, dass mehr als 60 Prozent der vorgesehenen lokalen Entwicklungsprojekte realisiert wurden, aber abgesehen von zwei neuen Zäunen vor seinem Haus und vor einer Schule wurde hier gar nicht gebaut. Ist das etwa Entwicklung?" empört sich Ahmed Chaffai, stellvertretender Generalsekretär des Regionalverbandes der UGTT.

Frust und Arbeitslosigkeit

6000 Arbeitslose zählt Siliana, das rund 130 Kilometer südwestlich der Hauptstadt Tunis liegt - mehr als 4000 von ihnen haben einen Hochschulabschluss. Die Investitionen in der Region sind in den ersten zehn Monaten dieses Jahres im Vergleich zu 2011 um fast 45 Prozent zurückgegangen, die Zahl der Arbeitsplätze gar um zwei Drittel. "Das Einzige, was sich für uns mit der Revolution verändert hat, ist die Meinungsfreiheit", erzählt ein junger Demonstrant. Er hat 2010 seinen Hochschulabschluss gemacht und ist seitdem arbeitslos, seine ältere Schwester sucht schon seit acht Jahren ein Arbeit - vergeblich.

Demonstranten versuchen, sich vor Tränengas zu schützen (Foto: DW)
Demonstranten versuchen, sich vor Tränengas zu schützenBild: Sarah Mersch

Die Wut der Einwohner ist groß, und die brutalen Polizeieinsätze gegen die zunächst friedlichen Demonstrationen schüren den Ärger noch mehr. Die Polizei hatte mit Schrotgewehren offenbar gezielt auf die Aktivisten geschossen, mehr als 250 Personen wurden nach offiziellen Angaben verletzt. Rund 20 von ihnen wurden an den Augen getroffen, zwei Personen sind dauerhaft erblindet.

Das Sondereinsatzkommando der Polizei sei sogar mit Gewalt in den Operationssaal des lokalen Krankenhauses eingedrungen, um Demonstranten festzunehmen, berichtet ein Mitarbeiter. "Dabei haben wir die verletzten Polizisten genauso gut behandelt wie die Demonstranten", empört er sich. "Die kennen offenbar nicht mal den Unterschied zwischen der Straße und dem Krankenhaus."

"Hau ab Jbeli!"

Die Bevölkerung von Siliana fordert inzwischen nicht nur den Gouverneur, sondern auch Premierminister Hamadi Jebali zum Rücktritt auf, den sie für die Eskalation verantwortlich macht. Dieser will zwar die Übergriffe der Polizei untersuchen lassen, beharrt aber darauf, dass der Gouverneur im Amt bleibt. Die Zeit des "Dégage", zu Deutsch "Hau ab", sei vorbei, so Jebali. Das war der Slogan, den die Demonstranten im Januar 2011 gegen Ben Ali skandierten. "Er hat wohl vergessen, dass er nur im Amt ist, weil wir 'Hau ab, Ben Ali!' geschrien haben. Und jetzt sagen wir 'Hamadi Jebali hau ab!'", ruft eine verletzte junge Frau.

Demonstranten auf dem Dach des Gewerkschaftgebäudes in Siliana (Foto: DW)
Demonstranten auf dem Dach des Gewerkschaftgebäudes in SilianaBild: Sarah Mersch

Die sozialen Spannungen nehmen in Tunesien knapp zwei Jahre nach dem Aufstand erheblich zu, und die Regierung steht unter immer stärkerem Druck. Denn die Verfassung, die eigentlich schon fertig sein sollte, kommt nicht voran, und die Wirtschaft leidet unter der instabilen politischen Situation. Im Landesinneren, von dem schon Ende 2010 die Protestbewegungen ausgingen, hat sich für viele Bewohner die wirtschaftliche Lage nochmals verschlechtert.

Ein erster Kompromiss

Am Freitagabend wandte sich Präsident Moncef Marzouki, Mitglied des Koalitionspartners CPR (Kongress für die Republik), an die Bevölkerung. Er kritisierte die Gewalt, forderte Wahlen noch vor dem Sommer und eine Verkleinerung der Regierung. Jetzt seien alle Tunesier, Politiker, Zivilgesellschaft und Gewerkschaften, in der Pflicht, zusammenzuarbeiten, um den sozialen Frieden nicht zu gefährden. Am Samstag (01.12.2012) erzielten UGTT und Regierungsvertreter einen Kompromiss: Der Stellvertreter des Gouverneurs wird zunächst die Amtsgeschäfte des Verwaltungsbezirks Siliana weiterführen, bis die Regierung eine endgültige Entscheidung über die Zukunft des Gouverneurs trifft.

Präsident Moncef Marzouki und Premierminister Hamadi Jebali (Foto:Hassene Dridi/AP/dapd)
Präsident Moncef Marzouki und Premierminister Hamadi JebaliBild: AP

Die Proteste weiten sich unterdessen aus, im Umland von Siliana und in der Hauptstadt Tunis kam es am Wochenende immer wieder zu teils gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten.