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Politik

Grünen-Wahltour: Pragmatismus statt Klischees

Ben Knight
20. August 2019

Auf Tour durch Ostdeutschland: Vor den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg bereist Grünen-Chef Robert Habeck eine Gegend, die ziemlich weit weg ist von der Heimat der meisten seiner Anhänger. Der tiefe Osten?

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Öffentliche Fragerunde Robert Habeck bei Wahlkampf in Sachsen
Bild: DW/B. Knight

Was fällt Ihnen bei Bautzen ein? Wer diese Frage an die Durchschnittsdeutschen stellt, erfährt in der Regel zwei Sachen über die kleine Stadt nahe der tschechischen Grenze. Da ist zum einen der Senf, den viele zum Würstchen dazugeben - Bautzener Senf gehört zu den bekanntesten Lebensmitteln aus Ostdeutschland. Und da ist zum anderen die Erinnerung an die hässlichen Zwischenfälle vor drei Jahren, auf dem Höhepunkt dessen, was man "Flüchtlingskrise" nannte.

Im Februar 2016 wurde ein leerstehendes Hotel, das als Flüchtlingsunterkunft vorgesehen war, vorsätzlich in Brand gesteckt. Ein paar Monate später mussten dutzende Polizeibeamte eine Straßenschlacht zwischen etwa 20 Migranten und 80 Rechtsextremisten auflösen. Seinerzeit hatte Bautzen eine Aufmerksamkeit in den und durch die Medien, auf die die Stadt wohl gerne verzichtet hätte.

Wer heute nach Bautzen fährt und etwa zum Kornmarkt spaziert, hat allenfalls noch eine dunkle Erinnerung an diese Vorfälle. An diesem Abend sind hier etwa 300 sehr friedliebende Bürger hergekommen, um ein Eis zu essen und dem Mann zuzuhören, dessen Partei sie bei der Landtagswahl in zwei Wochen vielleicht wählen, vielleicht aber auch nicht: Robert Habeck, einer der beiden Bundesvorsitzenden der Grünen, ist in der Stadt.

Anders als neulich in Chemnitz

Die friedliche Stimmung kann nicht darüber hinwegtäuschen: Sicherheitsbedenken sind präsent. Die Polizei hat zwei Transporter in diskretem Abstand hingestellt, und der Moderator der Veranstaltung beginnt seine Ausführung mit einem Hinweis darauf, dass Glasflaschen und alkoholische Getränke während der nächsten 90 Minuten hier untersagt seien. 90 Minuten unter der Überschrift: Die Bürger fragen, Habeck antwortet.

Quadriga - Die Grünen: Deutschlands neue Nummer 1?

Es gibt gute Gründe für die Vorsichtsmaßnahmen. Habecks dreiwöchige Tour durch Sachsen und Brandenburg ist nicht völlig reibungslos verlaufen. Letzte Woche Donnerstag wurde der Grünen-Parteichef in Chemnitz, der Stadt der rechtsextremen Aufmärsche und Gewalt im vergangenen Sommer, aggressiv von einer Gruppe der rechtsextremistischen Vereinigung "Pro Chemnitz" angegangen. Einem Bericht der Tageszeitung (taz) zufolge waren es "muskulöse Typen mit kahl rasierten Schädeln und Sonnenbrillen", die Habeck nur wenige Meter von der Bühne entfernt anbrüllten, er möge sich, nun ja: entfernen. 

Flüchtlinge und andere Fragen

Die ostdeutschen Bundesländer sind nicht gerade eine Komfortzone für die Grünen, die sich ja ansonsten anschicken, nach den Christdemokraten zur zweiten Kraft in der Republik zu werden. Das gute Ergebnis bei der Europawahl im Mai war der jüngste Indikator dafür. In Sachsen aber liegen die Dinge anders: Jüngste Umfragen sehen die Grünen hier an vierter Stelle - nach der CDU, der rechten Alternative für Deutschland (AfD) und den Linken.

Doch dieser warme August-Abend in Bautzen tut eine Menge dazu, das Bild Ostdeutschlands im allgemeinen und des Bundeslandes Sachsen im besonderen zu revidieren. Robert Habeck, entspannt im klassischen Robert-Habeck-Style mit aufgekrempelten Hemdsärmeln, war sich vor der Veranstaltung der Stereotypen durchaus bewusst. 

"Dieser Wahlkampf soll Normalität in diese politische Debatte bringen", sagt der Grünen-Chef der DW. Man dürfe nicht mit der Vorstellung weitermachen: "'Oh, das ist so kompliziert und schwierig im Osten.' Wir wollen nicht mit Vorurteilen herumlaufen. Es geht auch darum, das Klischee des Ostens aus der Welt zu schaffen."

Energie, Umwelt und Pragmatismus

Und wo gerade von Klischees die Rede ist: Ungeachtet der Ereignisse neulich in Chemnitz kommen die Themen Einwanderung und Islam an diesem Abend nicht zur Sprache. Die Bürger nutzen die Gelegenheit, Habeck und dem Grünen-Landesvorsitzenden Wolfram Günther ganz andere Fragen zu stellen: Es geht um Energie, es geht um Umwelt und es geht um Ökonomie. 

Wie soll Deutschland ohne Atomstrom funktionieren, wenn es sich gleichzeitig von den Kohlekraftwerken verabschiedet? Dass das die Menschen hier beschäftigt, ist naheliegend: Schließlich befinden sich in Sachsen einige der größten Braunkohle-Tagebaue Deutschlands; traditionell ist das Land wirtschaftlich von der Kohleverstromung abhängig.

Schon die allererste Frage des Abends, die ein junger und skeptisch aussehender Mann namens Paul Reiter stellt, geht in diese Richtung. Habeck reagiert vorsichtig, fast zurückhaltend, als er dem Publikum versichern will: Das Letzte, was die Grünen wollen, ist eine Destabilisierung der Stromversorgung Deutschlands.

Und wenn es windstill ist?

Doch Habecks Plädoyer für erneuerbare Energien wird den Bürger Reiter an diesem Abend nicht so recht überzeugen. "Wie kann sich eine Industrienation wie Deutschland vom Wind abhängig machen?" Und im Gespräch mit dem DW-Reporter schiebt der Mann gleich die nächste Frage hinterher: "Was passiert denn, wenn es einmal für eine längere Zeit einfach windstill ist, nur einmal angenommen?"

Aber bei solchen Themen zeigen Habeck und Landeschef Günther ihr umweltpolitisches Knowhow. Es folgen Details über neue Technologien, über "intelligente Zähler" und Geräte, die sich einschalten, wenn Windenergie reichlich vorhanden und billig ist. "Für diese Form von Energie brauchen wir eine neue Infrastruktur", stellt Habeck fest. "Was momentan nicht passiert, ist, dass die billigeren Preise an die Verbraucher weitergegeben werden."

Der Mann besticht durch seine Persönlichkeit, bekanntermaßen, und die grünen Parteistrategen wissen das zu nutzen. Die Resonanz an diesem Abend in Bautzen ist überwiegend positiv. Auch, weil sich der Parteichef bemüht, nicht nur als Bewahrer der Umwelt aufzutreten, sondern die wirtschaftlichen Sorgen der Bürger im Blick zu behalten. Das passt hier im früheren Osten, wo die Wirtschaft Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung noch hinterherhinkt, und wo ökonomische Fragen zentrale Anlieger der Wähler sind. Pragmatismus zählt. Ob die Grünen das überzeugend ansprechen und so Wähler überzeugen können, nicht den rechtspopulistischen Parolen der AfD zu vertrauen, bleibt noch etwas abzuwarten.