Reeperbahn im Corona-Modus
20. August 2020Auf der Reeperbahn - nein, nicht nachts um halb eins, sondern nachmittags um halb fünf. Anders als im Hans Albers-Schlager ist im Sommer 2020 die legendäre Partymeile schon viel früher bevölkert. Allerdings spärlich - noch. Es ist ein fast tropischer Nachmittag.
Hamburgs Reeperbahn hat sich mit ihren Quer- und Parallelstraßen, Plätzen und Gassen zum internationalen Kultur- und Party-Hotspot gemausert. Millerntor, Spielbudenplatz, Herbertstraße und Große Freiheit stehen genauso für Amüsement und Ablenkung wie die Reeperbahn selbst, wo alles anfing.
Und auch im Corona-Sommer 2020 flanieren Touristen und Hanseaten auf den 930 sündigen Metern. So lang ist die Reeperbahn. Ihre Parallelstraße, die Herbertstraße, ist allerdings verwaist – Prostitution ist in Zeiten von Corona verboten - noch.
Kubanische Musik schwappt aus den weit offen stehenden Fenstern der Bar "Sommersalon" durch die warme Luft. Hier auf dem Spielbudenplatz waren Open Air-Konzerte geplant - eigentlich. Nicht nur auf den Trottoirs der Amüsiermeile stehen Stühle, Tische, Bänke. Auch auf den Bürgersteigen von Davidstraße, Hamburger Berg, Talstraße und Großer Freiheit wird gegessen und getrunken, geflirtet und geschaut. Einige Sitzplätze bleiben leer - ist es die Hitze oder halten die Einschränkungen zur Eindämmung der Pandemie Besucher ab?
Die Reeperbahn, von den Hamburgern "Kiez" genannt, gehört neben der Heidelberger Altstadt, Schloss Neuschwanstein und dem Münchner Hofbräuhaus zu den weltweit bekanntesten Attraktionen Deutschlands.
Mehr als nur ein Rotlichtviertel
Besucher nehmen weite Reisen nach Hamburg auf sich, um einmal auf der Großen Freiheit ein Bier zu trinken oder sich vor der Davidwache, der Polizeistation auf dem Kiez, mit leichten Mädchen im Hintergrund fotografieren zu lassen. Oder in einem der Stripclubs ihren Junggesellenabschied zu feiern.
In den vergangenen 30 Jahren hat die Rotlicht-Meile ihr Image aufpoliert und ist mit Musik- und Jazz-Clubs, Szene-Restaurants und Theatern salonfähig geworden. Mehr als 20.000 Besucher kommen an einem Tag hierher - normalerweise. Mit Kreativität und gutem Wetter werden auch im Sommer 2020 Besucherrekorde gebrochen - mit Nebenwirkungen.
Das "Cornern", feiernde Gruppen, die sich an Kiosken und Tankstellen mit alkoholischen Getränken versorgen, ist nicht Corona-konform und den Gastronomen auf dem Kiez schon länger ein Dorn im Auge. Bis auf weiteres ist derzeit der Verkauf von Alkohol "to go" in den Szenevierteln der Hansestadt am Wochenende verboten.
Und so kämpft sich auch das Partyviertel rund um die Reeperbahn mit vielen neuen Auflagen nach dem Lockdown mit Kultur, Table Dance, Pils und Party zurück ins Geschäft.
Theatertickets im Viererpack
Corny Littmann war der Erste. Sein Theater "Schmidts Tivoli" am Spielbudenplatz ist wieder geöffnet. Das Tivoli war sogar das erste Theaterhaus in Deutschland, das den regulären Spielbetrieb nach dem Lockdown wieder aufgenommen hat. Premiere der Corona-kompatiblen Show "Paradiso" war am 2. Juli. Es ist ein buntes, musikalisches, berauschendes Programm voller Überraschungen. Es variiert alle vier Wochen. "Wir sind seitdem fast jeden Tag ausverkauft", berichtet der Theatermacher nicht ohne Stolz.
Zwar können nur 250 anstatt 630 Personen in das Theater, und das Programm dauert nur 75 Minuten ohne Pause, aber die Rückmeldungen seien positiv - trotz der sehr begrenzten Möglichkeiten aufgrund der Hygienevorschriften. Auf die 450.000 Besucher, das Traumergebnis 2019, wird Littmann nicht mehr kommen, aber er verringere seine Verluste und holt seine Angestellten aus der Kurzarbeit: "Wir haben aus der Not eine Tugend gemacht und viele Hygieneauflagen in das Programm eingebettet".
Verkauft werden Tickets im Doppel - und Viererpack. Diese Gruppen werden dann jeweils von einem Mitarbeiter zu ihrem Tisch gebracht. Auf der Bühne ist immer nur ein Künstler zu sehen, das schreibt der Arbeitsschutz vor. Ausnahme: Die Zauberer sind Vater und Sohn und dürfen gemeinsam auftreten. Zwei Musiker spielen auf einer Empore mit Sicherheitsabstand in schwindelerregender Höhe. New Normal.
Trotzdem: "Es ist ein Stück Lebensqualität, was wir hier zurückbekommen haben", schwärmt eine 16-jährige Besucherin aus Hildesheim. Ihre Schwester durfte sogar mit einem Plexiglas-Visier und Handschuhen bei einem Zaubertrick mitmachen. "Phantastisch, wir sind glücklich wieder ausgehen zu können", resümiert eine Besucherin.
Maskenpflicht und Mindestabstände in den Bars
Weniger glücklich ist Christian Fong, Chef der Bars "Safari Bierdorf", "Shooters", "Bierstub" und des "Dollhouse" - alle auf der Großen Freiheit. Größtes Sorgenkind ist seine Table-Dance-Bar Dollhouse, die zwar wieder Gäste empfängt, aber unter strengen Auflagen. So dürfen nur ein Drittel der Plätze gefüllt werden und auch den Profi-Tänzerinnen bleibt das Tanzen verboten, Maskenpflicht und Mindestabstände inklusive. Tänzerinnen servieren Drinks in sexy Outfits. Das sonst beliebte Lokal bleibt oft leer. In allen vier Häusern hat Fong rund 80 Prozent weniger Einnahmen als im Vorjahr.
Die Große Freiheit, wo einst die Beatles aufspielten, hat aktuell regelmäßig Besuch von Gesundheitsamt und Polizei. Hier wird es häufig zu eng, sodass der Eingang zur Freiheit, der heute Beatles-Platz heißt, offiziell geschlossen wird. Dabei wollen viele Gastronomen gerade jetzt bei dem guten Wetter finanzielle Löcher stopfen. Zwei Kiez-Lokale, die sich nicht an die Vorschriften gehalten haben, sind bereits für einige Tage stillgelegt worden.
Christian Fong respektiert die Auflagen und bittet seine Gäste, nicht zu tanzen, wegen der Aerosole. Er bespricht sich mit der Polizei. "Neulich habe ich mit den Beamten geredet und ihnen erklärt, dass weiter oben in der Straße noch ganz viel Platz war. Daraufhin haben sie die Freiheit wieder geöffnet und die Menschen gebeten, weiterzugehen, und mehr Gäste konnten in die Straße."
Was kommt nach dem Sommer?
Sorgenfalten kann der gebürtige Chinese, der seit den 1990er-Jahren einen deutschen Pass hat, nicht verbergen. Nur mit staatlicher Hilfe kann er seinen Betrieb aufrecht halten. Was passiert, wenn es kälter wird? Hamburg ist für sein Schmuddelwetter bekannt, dann können die Tische draußen nicht mehr genutzt werden. Am 31. Oktober läuft die Erlaubnis für Ausschank im Freien aus: "Was dann? Keine Ahnung."
Es ist inzwischen fast Mitternacht, und die langen Hochtische und Bänke der Kneipen auf den Bürgersteigen sind gut besetzt. Trotzdem: "Wir haben uns mehr von der Reeperbahn versprochen", geben Niklas und Daniel aus München zu. Die beiden 19-Jährigen lauschen einem einsamen Musiker, der vor dem Tresen, hinter einer Scheibe aus Plexiglas live "Purple Rain" von Prince singt. Auf Bildschirmen an der Wand läuft Fußball. Mehr Party, mehr ausgelassene Stimmung hätten die beiden Touristen erwartet, aber hier fühlten sie sich trotzdem freier als in Bayern, wo es strengere Auflagen für Nachtschwärmer gebe. Sie werden weiterziehen und schauen, ob irgendwo noch mehr geht.
Samstagnacht dann wird die Polizei auf dem Hamburger Kiez 22.000 Menschen zählen und den Eingang zur Großen Freiheit verriegeln, es ist zu voll.
Die Reeperbahn hat nichts von ihrer Faszination verloren. Corny Littmann weiß, warum: "Es ist das internationale Flair, und es sind kreative Köpfe, die immer wieder hierherkommen und Ideen umsetzen. Wir schöpfen aus der Kraft, uns beständig zu verändern und uns neu zu erfinden." Und so werde es immer weiter gehen auf der Reeperbahn - nachts und tags.