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"3096 Tage" im Kino

Bernd Sobolla27. Februar 2013

Mit der Flucht der 18-jährigen Natascha Kampusch endet im Jahr 2006 in Österreich ein achtjähriges Martyrium. Ihr Entführer hatte sie in einem Verlies gefangen gehalten. Sherry Hormann hat den Fall verfilmt.

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Wolfgang Priklopil (Thure Lindhardt) lauert Natascha Kampusch (Amelia Pidgeon) auf dem Schulweg auf © 2013 Constantin Film Verleih GmbH/Jürgen Olczyk
Film 3096 TageBild: 2013 Constantin Film Verleih GmbH/Jürgen Olczyk

Am Beginn des Films steht ein banaler Streit zwischen Mutter und Tochter. Die zehnjährige Natascha wirft die Wohnungstür hinter sich zu und läuft zur Schule. Die Mutter geht auf den Balkon, um sie noch mal zu sehen, ihr vielleicht etwas Versöhnliches hinterherzurufen. Doch Natascha ist schon weg. Wenige Minuten später läuft das Mädchen an einem kleinen Transporter vorbei, in dem Wolfgang Priklopil sitzt. Man hört die Kleine nur noch kurz schreien, dann ist sie in dem weißen Wagen verschwunden.

Sechs Quadratmeter unter der Erde

Es ist keine spontane Aktion. Der arbeitslose Nachrichtentechniker Wolfgang Priklopil hat die Entführung von langer Hand geplant. In seinem Haus in einem Vorort von Wien hat er einen 2 x 3 Meter kleinen Kellerraum ausgebaut, um das Mädchen dort festzuhalten – wahrscheinlich für immer. Der Raum ist nur über einen schmalen Schacht erreichbar, vor dessen Eingang wiederum ein großer Tresor steht. Keiner ahnt davon. Und Priklopil wohnt allein in dem Haus. Gelegentlich kommt seine Mutter vorbei, um ihm Essen zu bringen.

Tagelang, wochenlang suchen Polizeitrupps nach der Entführten. Irgendwann tauchen sogar zwei Beamten bei Priklopil auf. Sein weißer Transporter ist im Fahndungsnetz gelandet. Doch Wagen dieser Art gibt es viele. Und auch die Tatsache, dass Priklopil kein Alibi für die fragliche Zeit hat, macht die Beamten nicht stutzig.

Die junge Natascha Kampusch (Amelia Pidgeon) © 2013 Constantin Film Verleih GmbH/Jürgen Olczyk
Die junge Natascha (Amelia Pidgeon) in ihrem VerliesBild: 2013 Constantin Film Verleih GmbH/Jürgen Olczyk

Viele Schauspieler lehnten ab

Es war einer der spektakulärsten Entführungsfälle weltweit, der am 2. März 1998 in Wien begann. Und so konnte es eigentlich nicht verwundern, dass die Geschichte früher oder später verfilmt wurde. Dass nicht ein österreichischer Produzent die Rechte erwarb, sondern die deutschen Filmemacher Bernd Eichinger und Martin Moszkowicz, verwundert allerdings doch ein wenig. Eichinger konnte Sherry Hormann ("Wüstenblume") überzeugen, die Regie zu übernehmen.

Viele österreichische und deutsche Schauspieler hatten dem Projekt gegenüber Vorbehalte. "Es gab viele Schauspieler, die den Part des Wolfgang Priklopil ablehnten, ohne überhaupt das Drehbuch zu kennen", drückt Sherry Hormann ihrer Verwunderung aus. "Wenn ihr keine Probleme habt, Nazis, Serienmörder oder Päderasten zu spielen, warum dann nicht jemanden wie Wolfgang Priklopil?"

Großartige Hauptdarsteller und Machtmissbrauch

Schließlich fanden die Filmemacher ihre Darsteller in Großbritannien und Dänemark eine absolut überzeugende Schauspielcrew: Die Engländerin Amelia Pidgeon als junge Natascha und Antonia Campbell-Hughes als die ältere brillieren in einer Mischung aus Überlebensstärke, Zerbrechlichkeit und emotionaler Anpassungsfähigkeit. Für Antonia Campbell-Hughes war es eine einzigartige Herausforderung. "Ich sah jemanden, der mit großer Willenskraft und starkem Lebensmut überlebte. Manchmal war ich ziemlich deprimiert und musste mit meinen Gefühlen kämpfen, weil alles so komplex war."

Antonia Campbell-Hughes als Natascha Kampusch © 2013 Constantin Film Verleih GmbH/Jürgen Olczyk
Antonia Campbell-Hughes als Natascha KampuschBild: 2013 Constantin Film Verleih GmbH/Jürgen Olczyk

Der Däne Thure Lindhardt spielt Wolfgang Priklopil nicht als Verrückten, sondern eher als Borderliner. Einer, der Gewalt und Erniedrigung in vielen Variationen ausübt. So brutal und obsessiv sich Wolfgang Priklopil verhält, wenn er Natascha schlägt, ihr die Haare abrasiert oder sie tagelang ohne Essen lässt – Thure Lindhardt sieht in ihm auch einen Mann, der zugleich Opfer seiner eigenen Lebensumstände ist: "Er hatte eine sehr besitzergreifende Mutter und war kein normaler Mensch. Für mich geht es bei der Geschichte nicht nur um Macht, sondern auch um Liebe, vor allem um fehlende Liebe. Wenn man keine Liebe bekommt, kann es passieren, dass man sein Macht missbraucht, um sie sich zu holen."

"Talkshow" unter der Erde

Der Film wurde – international vermarktbar – auf Englisch gedreht und fürs deutsche Kino nachsynchronisiert. Natürlich handelt es sich weitgehend um ein Kammerspiel. Aber in dieser Enge zeigt Sherry Hormann Szenen, die eine unglaubliche psychische Tiefe offenbaren. Natascha entwickelt in dem Verlies intuitiv Überlebensstrategien und spielt zum Beispiel Schule. Sie legt Kleider über zwei Stühle, die Schüler symbolisieren, und "unterrichtet" diese. Sie befragt sich selbst in einer "Talkshow", wie es ihr gelang, ihrem Entführer zu entfliehen. Oder sie fragt Priklopil, ob er "dort oben" auch so alleine sei.

Sie schafft zwischen sich und den Ereignissen eine Distanz, indem sie in die innere Emigration geht. Auch wenn die Realität immer wieder zuschlägt. "3096 Tage" ist in jedem Moment ein Drama. Aber wenn die beiden Weihnachten oder Geburtstag feiern, wenn Priklopil mit seiner Videokamera festhält, wie Natascha ihre Geschenke auspackt oder bei der Renovierung des Dachstuhls arbeitet, bekommt der Film darüber hinaus eine surreale Note.

Wolfgang Priklopil (Thure Lindhardt) bestimmt, wann Natascha Kampusch im Verlies Licht haben darf © 2013 Constantin Film Verleih GmbH/Jürgen Olczyk
Thure Lindhardt als der Entführer Wolfgang PriklopilBild: 2013 Constantin Film Verleih GmbH/Jürgen Olczyk

Die innere Stimmung

Die inzwischen 26-jährige Natascha Kampusch hat in einigen Interviews über ihre Leidenszeit berichtet, sie moderierte kurzzeitig eine eigene Talkshow ("Natascha Kampusch trifft") und schrieb gemeinsam mit den Autorinnen Heike Gronemeier und Corinna Milborn ihre Autobiografie. Auf dieser basiert der Film, auch die erste, 50-seitige Drehbuchfassung, die der inzwischen verstorbene Filmproduzent Bernd Eichinger entwarf und die von Ruth Thoma weiter entwickelt wurde.

Natascha Kampusch war von vorneherein klar, dass man ihre Geschichte nicht eins zu eins umsetzen konnte. Wichtig war ihr, dass der Film ihre innere Stimmung vermittelt. Und als sie das Werk sah, war sie zufrieden: "Er hat mich auch daran erinnert, wie ich an die Situation in der Gefangenschaft herangegangen bin. Wie ich versucht habe, mir so ein kleines Zuhause zu schaffen, indem ich die Kommode an die Wand gemalt habe oder eine Türschnalle oder einen Briefkasten, damit ich mich wieder wie Zuhause fühlen kann", sagte sie gegenüber dem Verleih des Films, Constantin Film.

"Denke nicht einmal daran!"

Die beeindruckendsten Bilder (Kamera: Michael Ballhaus) sind Sherry Hormann gelungen, als Natascha ihre ersten Ausflüge macht. Die Zeitlupe hält fest, wie sie die Menschen auf der Straße beobachtet und überlegt, laut um Hilfe zu rufen. Dann nimmt Priklopil nur kurz seine Hand, fährt über ihre Augen und sagt: "Denke nicht einmal daran!".

Die Regisseurin Sherry Hormann und Kameramann Michael Ballhaus © 2013 Constantin Film Verleih GmbH/Jürgen Olczyk
Kameramann Michael Ballhaus und Regisseurin Sherry Hormann bei der ArbeitBild: 2013 Constantin Film Verleih GmbH/Jürgen Olczyk

Auf der Toilette einer Skipiste schafft es Natascha endlich, eine Frau um Hilfe anzusprechen. Doch die Polin versteht kein Deutsch. Erst nach 3096 Tagen gelingt es ihr, in einem unachtsamen Moment Priklopils, als dieser seinen Trasnporter wäscht, durch die Toreinfahrt zu fliehen. Wenigen Stunden später wirft sich Wolfgang Priklopil vor einen fahrenden Zug. Ein beeindruckend inszenierter Film und so beängstigend wahr.

"3096 Tage" von Sherry Hormann ist am Donnerstag, den 28.02. in den deutschen Kinos angelaufen.