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Die Kosten von Grenzkontrollen

Christoph Hasselbach22. Januar 2016

Um den Flüchtlingsstrom einzudämmen, gehen immer mehr EU-Staaten dazu über, die längst aufgegebenen Grenzkontrollen wieder einzuführen. Die Folgen werden unterschiedlich eingeschätzt.

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Grenzpolizist an der Autobahn (Foto: Getty Images/AFP/G. Schiffmann)
Bild: Getty Images/AFP/G. Schiffmann

"Ihren Ausweis, bitte!" So heißt es inzwischen wieder immer häufiger in einem Europa, das sich jahrelang an grenzenloses Reisen gewöhnt hatte. Doch es geht nicht nur ums Reisen. Ein großer Teil des Wirtschaftslebens hat sich so eingerichtet, als sei Europa ein einziger Staat: Es gibt über die ganze EU verteilte Produktionsstätten, Lieferketten, dazu Arbeitnehmer, die von einem Land zum anderen wechseln. Den freien Austausch von Personen, Waren und Dienstleistungen gab es zwar schon vor Schengen, aber Schengen hat die Freizügigkeit noch einmal deutlich erleichtert und beschleunigt.

Wenn jetzt das System Schritt für Schritt ausgehöhlt wird, hat das gravierende wirtschaftliche Folgen, sagen deshalb viele Politiker und Experten. Mehr Staus an den Grenzen, mehr Verwaltungsaufwand, wieder mehr nationale Lagerhaltung statt europaweiter Just-in-time-Produktion: Lobbyverbände und Gewerkschaften befürchten, da würden schnell zehn Milliarden an Mehrkosten jährlich allein auf die deutsche Wirtschaft zusammenkommen, mit entsprechenden Folgen für Arbeitsmarkt, Steuern und Sozialsysteme.

LKW-Schlange (Foto: picture-alliance/dpa)
Symbol eines Europa mit Grenzen: die LKW-SchlangeBild: picture-alliance/dpa

Geht jetzt alles den Bach runter?

"Wenn das Schengen-System zerstört wird, ist Europa dramatisch gefährdet, politisch und wirtschaftlich", sagte Deutschlands Finanzminister Wolfgang Schäuble im Gespräch mit "Spiegel Online". EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker meint sogar: "Wer Schengen killt, wird im Endeffekt den Binnenmarkt zu Grabe getragen haben."

Martin Schulz, der Präsident des Europaparlaments, warnt in der "Passauer Neuen Presse", die Auswirkungen von Grenzschließungen seien "katastrophal". Wenn Lastwagen stundenlang an den innereuropäischen Grenzen warten müssten, "kommt so manche Produktion zum Stillstand".

Bereits bei der jetzigen Situation rechnet Juncker mit Mehrkosten für Transportunternehmen von jährlich drei Milliarden Euro. Sollten Grenzkontrollen überall wiedereingeführt werden, geht die Deutsche Industrie- und Handelskammer von zehn Milliarden pro Jahr aus.

Noch dramatischer klingt Anton Börner, der als Präsident des Bundesverbandes Großhandel, Außenhandel und Dienstleistungen besonders betroffen ist: "Wenn wir kein Schengen-Abkommen und keinen gemeinsamen Binnenmarkt mit einem freien Warenverkehr mehr haben, kann auch Deutschland mit seinem Geschäftsmodell einpacken", so Börner gegenüber der Deutschen Presseagentur. Auch der Euro würde dann zerfallen, eine Befürchtung, die er mit Juncker, Bundeskanzlerin Merkel und anderen teilt.

Allerdings muss ein Ende von Schengen keineswegs ein Ende des Binnenmarktes bedeuten. Großbritannien etwa ist schon heute Teil des Binnenmarktes, aber gehört nicht zu Schengen.

Umfrage vom 7.1.: 57 % der Deutschen sind für, 41 gegen die Einführung von Grenzkontrollen
Ergebnis einer Umfrage vom 7. Januar in Deutschland, knapp zwei Wochen vor der österreichischen Entscheidung

Auch der soziale Frieden ist wertvoll

Nicht jeder teilt diese Untergangsvorstellungen - auch nicht jeder Wirtschaftswissenschaftler. Unter ihnen ist Clemens Fuest, Präsident des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung. Im Sender SWR erklärte er die wirtschaftlichen Auswirkungen für beherrschbar. Die Folgen könne man begrenzen - etwa, indem man vor allem Lastwagen an den Grenzen durchwinke und nur einzelne Personen kontrolliere.

Während andere eine Kettenreaktion von Grenzschließungen befürchten, hofft Fuest auf sie. Am Ende würden vielleicht wieder nur die EU-Außengrenzen kontrolliert werden müssen, die Binnengrenzen könnten wieder öffnen. Vor allem aber, hofft Fuest, wäre der soziale Frieden gerettet. Denn der Ökonom sieht auch die Folgen einer Radikalisierung der Gesellschaft, wenn der massenhafte Zuzug andauert: "Spätestens bei der dritten Million ist das Ende der organisatorischen Möglichkeiten erreicht", prophezeit Fuest im SWR.

Zu den Gefahren für den sozialen Frieden gehören auch Konkurrenzängste. Vor allem bei Gewerkschaften und der politischen Linken hegt mancher den Verdacht, wenn sich die Wirtschaft für mehr Flüchtlinge einsetze, gehe es ihr in Wahrheit darum, Druck auf die Arbeitnehmer auszuüben. SPD-Fraktionsvize Hubertus Heil hat gewarnt: "Niemand sollte versuchen, die Flüchtlingsdebatte für Lohndrückerei auszunutzen." Aber auch CSU-Politiker benutzen dieses Argument: Bayerns Finanzminister Markus Söder warnt, bei den "Schwächeren der Gesellschaft wird die Konkurrenz um Jobs, Wohnungen und Sozialhilfen vor allem stattfinden."

Flüchtlinge im Schnee (Foto: picture-alliance/dpa/A. Weigel)
Hoffen, dass Kontrollen an den Binnengrenzen wieder überflüssig werdenBild: picture-alliance/dpa/A. Weigel

Verständnis für Grenzschließungen

Klar ist, dass praktisch niemand in Europa Grenzkontrollen leichten Herzens einführt, sondern nur als Notmaßnahme, um den unkontrollierten Flüchtlingszustrom einzugrenzen. Deshalb hat zum Beispiel auch Finanzminister Schäuble gegenüber "Spiegel Online" trotz aller Warnungen durchaus Verständnis dafür gezeigt: "Wir wissen, dass die Fähigkeiten der EU-Länder nicht unendlich sind. Wir haben auch alle akzeptiert, dass Schweden Grenzkontrollen eingeführt hat. Und das war jahrzehntelang eines der offensten Länder für Einwanderer."

Am Ende haben alle die Hoffnung, dass die Kontrollen nur vorübergehend sein müssen und damit Schengen am Ende gerettet werden kann. Denn so problematisch die Einschränkungen von Schengen sind: Insgesamt überwiegt auch bei den Gegnern die Einsicht, dass sowohl offene Außen- als auch Binnengrenzen auf Dauer ein untragbarer Zustand sind.