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Die kurdischen Revoluzzer

Daniel Heinrich, z.Zt. Istanbul 8. Juni 2015

Das politische System der Türkei steht Kopf. Die kurdische HDP zieht zum ersten Mal ins Parlament ein. Dies liegt vor allem an ihrem Spitzenkandidaten Selahattin Demirtas. Daniel Heinrich berichtet aus Istanbul.

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Selahattin Demirtas von der kurdischen Partei HDP (Foto: AFP)
Bild: Getty Images/AFP/O. Kose

Die Menschen tanzen und rufen: "Wir sind alle HDP". Innerhalb weniger Minuten hat sich die ruhige Seitenstraße in Istanbul in eine einzige große Party verwandelt. Sie schwenken rot-weiß-grüne Fahnen mit der gelben Sonne, ein Symbol kurdischer Autonomie. Viele von ihnen haben Schals dabei mit dem Konterfei ihres Helden: Selahattin Demirtas.

Der hält drinnen im Haus gerade eine Pressekonferenz. 13 Prozent bei nationalen Wahlen: Das ist eine Sensation für seine Partei, die HDP (Demokratische Partei der Völker). Demirtas wirkt glücklich, aber auch müde. Die Strapazen des Wahlkampfes sieht man ihm an. Ihm dämmert wohl langsam, was da gerade passiert ist. Selahattin Demirtas, geboren in Palu, einer Kleinstadt im Osten des Landes, 42 Jahre alt, Jurist, verheiratet, Vater von zwei Töchtern, hat gerade das politische Establishment der Türkei ins Wanken gebracht.

Die Öffnung der HDP

Demirtas hat das geschafft, was vor ihm kaum jemand für möglich gehalten hätte: Aus einer Interessenvertretung der Kurden hat er die HDP zu einem Sammelbecken liberaler Erdogan-Kritiker, Gezi-Aktivisten und stockkonservativer Kurden im Südosten der Türkei geformt.

Schon bei den Präsidentschaftswahlen im vergangenen Jahr holte er beeindruckende zehn Prozent - obwohl die HDP damals gerade einmal ein paar Monate alt war. Demirtas präsentiert sich als Gegenmodell zum politischen Establishment, als Gegenmodell zu Recep Tayyip Erdogan, der das Land wie ein Patriarch regiert, und als Gegenmodell zu den grauen Bürokraten der Kemalisten, deren politische Vorstellungen immer noch durchdrungen sind von der beinahe 100 Jahre alten Doktrin des Staatsgründers Kemal Atatürk.

Demirtas dagegen: Dynamisches Auftreten, bubenhaftes Grinsen, ein bisschen Schalk im Nacken. Bei Auftritten im Fernsehen gibt er schon mal seine Gesangskünste zum Besten und mit seiner Fähigkeit, die "türkische" Gitarre ("saz") zu spielen, könnte er ohne Weiteres in einer Castingshow für traditionelle Musik auftreten. Und auch auf einem anderen Gebiet scheint es die HDP ernst zu meinen mit dem Aufbrechen verkrusteter Strukturen: Fast die Hälfte der HDP-Abgeordneten sind weiblich, die Führung der Partei teilt sich Demirtas mit seiner Parteifreundin Figen Yüksekdağ. Das ist unübertroffen in einem Land, in dem es die beiden führenden Parteien AKP und CHP noch nicht einmal auf ein Fünftel Parlamentarierinnen bringen.

Der Kurdenkonflikt als Härtetest

All das ist neu in der politischen Landschaft der Türkei. Und es kommt an. Sogar Vertreter der türkischen Streitkräfte haben dieses Mal für die HDP gestimmt. Das ist mehr als bemerkenswert: Kaum ein innerer Konflikt hat die Türkei in den letzten Jahren so erschüttert wie der Kurdenkonflikt. Bis zu 40.000 Menschen sind dabei bisher ums Leben gekommen. Noch die Vorgängerpartei der HDP, die BDP (Partei des Friedens und der Demokratie), wurde vor allem als politischer Arm der PKK angesehen. Die PKK wird sowohl von der EU als auch von den USA als Terrorgruppe eingestuft. Auch Demirtas unterhält Verbindungen zum inhaftierten PKK-Führer Abdullah Öcalan, stattet ihm regelmäßige Besuche auf der Gefängnisinsel Imrali ab. Auf die Frage nach seinen Verbindungen zu Öcalan antwortet er im DW-Gespräch ausweichend: "Ich repräsentiere eine breite Schicht der Bevölkerung, eine sehr vielfältige Schicht. Angefangen von den Kurden, Aleviten, Armeniern, Frauen, Arbeitern, Türken und generell allen Unterdrückten, die in ihrer Vielfalt nicht respektiert und anerkannt werden."

Wahlplakate in Istanbul (Foto: DW)
Wahlplakate in IstanbulBild: DW/D. Heinrich

Die politischen Forderungen der HDP jedenfalls klingen weitaus weniger radikal als in der Vergangenheit. Eine Loslösung der kurdischen Gebiete von der Türkei wird nicht mehr gefordert. Vielmehr tritt die Partei für ein autonomes Gebiet innerhalb der Landesgrenzen ein. Und auch der Gewalt hat man abgeschworen: Seit 2012 gilt eine Waffenruhe zwischen Ankara und den Kurden.

Die Menschen auf den Straßen Istanbuls sind nach der Wahl euphorisch, die großen politischen Probleme scheinen weit weg: "Ich bin so glücklich", erzählt eine Passantin: "Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass sich etwas in diesem Land verändert." Ihr Freund stimmt ihr zu: "Dieses Ergebnis ist ein großer Schritt für die Demokratie in der Türkei."