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Vom Schweigen zum Widerstand

Maria Bogdan
21. Februar 2022

Viele Überlebende des Genozids an den Sinti und Roma schwiegen auch Jahrzehnte nach dem Ende des Nationalsozialismus über ihre Erfahrungen. Am Ende der Stille stand der Anfang einer neuen Geschichtsschreibung. Ein Essay.

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Deutschland Berlin | Ermordete Sinti und Roma | Denkmal
Berlin: Gedenkstätte für die in der NS-Zeit ermordeten Sinti und Roma Bild: picture-alliance/dpa/J. Raible

Angesichts der von Verfolgung geprägten Geschichte der Roma und Sinti ist das Konzept des "Widerstands" als Antwort auf eine als menschenverachtende und gewalttätig erlebte Umwelt zu verstehen. So prägt das traumatischste Ereignis des 20. Jahrhunderts in Europa - der Holocaust - bis heute die Aktivitäten und Diskurse der Roma-Bewegung.

Widerstand als Solidarität

Systemische, staatliche Verfolgung und Ermordung kosteten viele Leben. Die Freiheit von Gruppen und Individuen wurde zerstört. Diese Perspektive der Opfer wird wortwörtlich im Begriff "Porrajimos" gespiegelt, dass auf Romanes für den Holocaust steht: Es bedeutet "Zerstückelung".

Dies drückt zugleich die Segregation aus, die mit dem nationalsozialistischen Terror einherging: Man war alleine, auf sich gestellt - getrennt von der Familie, seinen Freunden, der Mehrheit der Gesellschaft. Widerstand hat daher in der Roma-Bewegung eine Bedeutung, die über den egoistischen (Über-)Lebenswillen hinaus reicht, nämlich, die Solidarität mit anderen Menschen - das Miteinander - nicht aufzugeben. In einem System der Unmenschlichkeit Empathie zu empfinden, sein Essen zu teilen, zu versuchen, sich gegenseitig vor dem Tod zu bewahren - all das sind Gesichter des Widerstands.

Raymond Gurême (1925-2020) ist der Held einer solchen Widerstandsgeschichte. Der französische Holocaust-Überlebende aus der Gruppe der Manouche war insgesamt neunmal aus verschiedenen Internierungslagern geflohen. Er schloss sich dem französischen Widerstand an und kämpfte in Paris für die Befreiung.

Eine historisch weniger bekannte Begebenheit ist jene des Roma-Aufstands am 16. Mai 1944 im Konzentrationslager Auschwitz - heute auch "Roma-Resistance-Day" genannt. Der Tag wird mittlerweile von einigen Organisationen genutzt, um auf die Geschichte des Widerstands der Roma-Communities aufmerksam zu machen und ist somit zu einem symbolischen Referenzpunkt der Bewegung geworden.

Widerstand für Anerkennung

Der Zeitzeuge und Überlebende Zoni Weisz war der erste Vertreter der Community, der im deutschen Bundestag sprechen durfte: Er nannte bei seiner Rede am Holocaust-Gedenktag den Genozid an den Sinti und Roma während des Zweiten Weltkriegs den "vergessenen Holocaust".

Diese Benennung trifft es genau: Verfolgung und Ermordung von Roma und Sinti wurde jahrzehntelang im Diskurs über den Holocaust ignoriert und ausgelassen. Erst im Jahr 1982 wurde in Westdeutschland der Genozid durch das Nazi-Regime an den Roma anerkannt. Weitere 30 Jahre später wurde die Gedenkstätte für die ermordeten Sinti und Roma in Berlin eingeweiht. 2015 wurde der 2. August vom EU-Parlament zum europäischen Roma-Holocaust-Gedenktag erklärt.

Bis dahin wussten viele Menschen nichts über den Genozid an den Roma, während sie gleichzeitig weiterhin an die historisch propagierten Stereotypen von Kriminalität glaubten. Dies führte zur Kultivierung und Verstetigung rassistischer Normen, die auch lange nach dem Krieg noch praktiziert wurden und werden.

Eben deshalb war und ist es hochrelevant, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass die Diskriminierung von Roma und Sinti systemische und historische Wurzeln hat. Diese Tatsache sollte daran erinnern, dass Roma - so wie alle Menschen - mit Würde und Respekt zu behandeln sind.

Wie erzählt man das Unaussprechliche?

In unserer von den Medien geprägten Realität sind besonders Kunst und Kultur zentrale Instrumente der Kommunikation. Über sie werden jene Geschichten erzählt, die einerseits die Communities selbst definieren, andererseits darüber aufklären und an die gemeinsamen Werte erinnern.

Auch Überlebende fanden darin Wege, endlich auszudrücken, was ihnen widerfahren war - dies war für viele direkt nach dem Krieg unmöglich gewesen. Bis dahin waren sie am Anspruch gescheitert, jene Worte zu finden, die eine Wiederholung der Geschichte verhindern würden. Viele Roma und Sinti - ebenso wie viele jüdische Zeitzeugen - beschlossen daher zu schweigen.

Im Zustand des Verfolgtseins

Ein einziger Filmemacher aus der Community wagte sich schließlich an die Herausforderung, den Genozid an den Roma und die darauffolgenden Dekaden des Schweigens zu thematisieren: der französische Regisseur Tony Gatlif.

Sein Film "Liberté"/"Korkoro" (Freiheit/Einsamkeit) versucht, das Unvorstellbare greifbar zu machen - auf der Basis einer wahren Geschichte, die während des Zweiten Weltkriegs in Frankreich geschah und in den Dokumenten des Historikers Jacques Sigot gefunden wurde (Ces barbelés oubliés par l'histoire: Un camp pour les Tsiganes et les autres). Gatlif veröffentlichte später eine erweiterte Version der Geschichte in einem Buch, das er zusammen mit Erik Kannay schrieb. 

Der Regisseur verzichtet auf Opferkult und bemüht keine moralischen Fragen. Vielmehr dokumentiert er detailliert die Prozesse des grauenhaften Geschehens. Was dargestellt wird, ist das Erleben einer menschlichen Seele im Zustand des Verfolgtseins. Die Hauptfigur, der Rom Toloche, spricht hauptsächlich mit seinem Körper, begleitet von der atmosphärischen Musik von Gatlif. Der Zuschauer wird Zeuge von komplexen Situationen, in denen auch die böse Seite der menschlichen Natur zum Vorschein kommt. Trotz mehrsprachiger Dialoge sind keinerlei Sprachkenntnisse notwendig, um zu verstehen, was dieser Film erzählt.

Widerstand als Gedächtnis

Gatlif hielt sich streng an die historischen Details. Dennoch ist das Resultat keine simple Rekonstruktion der Geschichte, sondern ein in Film gegossenes Gedächtnis. Eine cineastische Hommage an die Roma, die im Porrajimos zu Opfern und Helden wurden, und an jene Menschen, die ihr Leben riskierten, genannt "Les Justes" (die Gerechten), um zu helfen. Der Film führt das Publikum durch die Abwesenheit von Romantisierung und Dämonisierung fort von Stereotypen. Die komplexen Charaktere, deren Kultur und ihre Glaubenssätze, sind nicht exotisiert, fremd oder mystisch angehaucht. So wird ein authentischer Einblick in diverse Lebensarten gewährt, die sich durch den Jahrhunderte andauernden Zustand der Flucht entwickelt haben.

Der Film zeigt darüber hinaus, dass die Feindseligkeit gegenüber Roma nicht erst mit den Nazis begonnen hatte - und auch nicht mit ihnen geendet hat. Korkoro macht deutlich, dass die Jahrzehnte des Schweigens Ausdruck und Resultat genau dieser schmerzvollen Erkenntnis waren.Ein Beispiel dafür ist die Zeitzeugin und Künstlerin Ceija Stojka*(1933 - 2013), die ihr Schweigen erst brach, als sie bereits weit über 50 Jahre alt war. In den 1980er-Jahren begann sie, ihre Erinnerungen detailliert niederzuschreiben. Glasklar erzählte sie von ihren Kinderjahren in mehreren Konzentrationslagern, bevor sie einige Jahre später anfing, auch Bilder davon zu malen.

Ausstellungsplakat: "La memoria invicta" in Sevilla, Spanien
Ausstellungsplakat: "La memoria invicta" in Sevilla, Spanien

Ceija Stojka - Die Stimme der Farbe

Die im Januar 2022 im spanischen Sevilla eröffnete Ausstellung "La memoria invicta" (The unbeaten memory), zeigt grafische Arbeiten der Künstlerin und beschäftigt sich mit dem langjährigen Schweigen Überlebender, als eine Form des inneren Widerstands. Als Ceija Stojka mit ihrer Geschichte in die Öffentlichkeit ging, wurde sie zu einer kraftvollen Stimme der Erinnerung, zu einer Ikone der Roma-Bewegung und deren Kampf für Anerkennung. Ihre Werke lehren uns viel über die Macht der Worte.

Der Holocaust ist kein Witz

Über diese Macht sollte auch der britische Komiker Jimmy Carr einiges wissen. In seiner Show "His Dark Material" macht er einen Witz über den Holocaust mit einem Hinweis auf den Genozid an den Roma. Zuerst sagt Carr, dass niemand jemals über die Morde an den Roma sprechen würde - und ergänzt dann, dass dies niemand tue, weil niemand jemals über die "positiven Dinge" sprechen wolle. Carr erklärt dann noch im Anschluss an seinen Witz, dass dieser "edukative" Qualitäten habe.Dies sehen die Nachfahren der Betroffenen anders.

Eines ist klar: Es darf keinen Platz geben, an dem Witze über diesen schrecklichen Moment in der Geschichte gemacht und die Ermordeten sowie ihre Nachfahren verhöhnt werden. Carr hat es trotzdem getan. Dies zeigt, dass noch ein langer Weg vor uns allen liegt, bis der Rassismus gegen Roma und Sinti nicht mehr zum Alltag gehört.

Ungarn | Dr. Maria Bogdan, Sozialwissenschaftlerin
Maria Bogdan bei einem Vortrag an der Central European University (CEU)Bild: Zoltan Adrian Kepszerkesztoseg

Maria Bogdan ist Sozialwissenschaftlerin und Medientheoretikerin. In den letzten Jahren beschäftigt sie sich besonders mit sozialen Medien im Kontext der Roma-Bewegung. 

Dies ist der erste Essay aus der dreiteiligen Reihe "Stimme der Farbe" über Widerstand, Zugehörigkeit und Resilienz als zentrale Konzepte der Roma-Bewegung. Die Autorin analysiert diese anhand wichtiger Werke aus Kunst und Kultur der Roma-Communities. Die Artikel dieser Serie erscheinen im englischen Original und auf Romanes bei romblog.net

Diese Essayserie von Maria Bogdan  erscheint im Rahmen des NewsSpectrum-Stipendienprogramms, einer Initiative von IPI und MIDAS. ERIAC und DW sind Partner des Programms.