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Politik

Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Mexiko

Anabel Hernández
18. September 2019

Die Zahl der in Mexiko Verschwundenen und Ermordeten ist seit mehr als einem Jahrzehnt absurd hoch. Besonders erschreckend ist, wieviele Kinder und Jugendliche darunter sind, schreibt Anabel Hernández.

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Mexiko Drogenkrieg vermisste Kinder
Bild: ALFREDO ESTRELLA/AFP/Getty Images

Jedes Verbrechen an Menschen ist verwerflich. Doch Verbrechen an Kindern und Jugendlichen sind besonders abscheulich. Der Verlust der Freiheit oder des Lebens eines Menschen, der keine Möglichkeit zur Verteidigung hat allein wegen seines Alters, zerstört die Hoffnung auf eine lebenswerte Zukunft.

In Mexiko ist brutale Gewalt alltäglich. Die Nachrichten über die in meinem Land begangenen Verbrechen gehen um die ganze Welt. Zum Beispiel die Entdeckung eines Massengrabes in einem Vorort von Guadelajara, wo vor wenigen Tagen 119 Plastiktüten mit menschlichen Überresten gefunden wurden.

Die Vorstellung ist bedrückend. Doch die dunkelste und grausamste Seite der Gewalt in Mexiko spiegelt sich in der Zahl der Verbrechen an Kindern und Jugendlichen wider. Niemand hört die Stimmen dieser Kinder und Jugendlichen. Sie sind fast unsichtbare Opfer.

In den vergangenen zwölf Jahren des Krieges zwischen den Drogenkartellen sind abertausende von Kindern und Jugendlichen verschwunden oder getötet worden. In diesem Krieg sind Beamte, Politiker, Polizisten und Militärs oft Teil der organisierten Kriminalität und haben sich schwerer Menschenrechtsverletzungen, einschließlich des gewaltsamen Verschwindenlassens und des Mordes, schuldig gemacht.

Liste des Grauens

Im November 2012, vor dem Ende der sechsjährigen Amtszeit von Felipe Calderón, schickte mir ein Informant eine Liste. Es war eine Datei, deren Inhalt zu diesem Zeitpunkt nicht öffentlich bekannt war.

Als ich das Dokument auf meinem PC öffnete, lief es mir kalt den Rücken hinunter. Ich konnte nicht glauben, was ich sah: Eine namentliche Auflistung aller vermissten Personen von 2007 bis Juli 2012, die von der scheidenden Regierung unter den Teppich gekehrt worden waren. Mehr als 20.000 Opfer! Ein anderes Dokument, ebenfalls von der Regierung, sprach von insgesamt 25.276 Opfern.

Der Informant wusste, dass die Liste vernichtet werden sollte. Also ließ er mir, der "New York Times" und der "Los Angeles Times" eine Kopie zukommen. Ich habe die Liste in einem mexikanischen Wochenmagazin veröffentlicht.

Um die Hauptopfer des Krieges gegen die "Narcos", wie Calderon die Mitglieder der Drogenkartelle nannte, zu verheimlichen, behauptete die Regierung, dass es sich bei den Opfern um Kriminelle handle, die sozusagen den Tod fast verdient hätten. Sie verheimlichten die Liste - nicht nur, weil sie international Aufsehen erregte, sondern auch weil sie die Legende von den "Narcos" und "Bösewichten", die sich gegenseitig umbringen, zerstört hätte.

DW Kolumne Anabel Hernández
DW-Kolumnistin Anabel Hernández

Die Liste enthielt jeweils den Namen des Opfers, den Ort, aus dem es verschwand, den Namen des Familienangehörigen, der den Vorfall meldete, seine Telefonnummer, und in einigen Fällen die Umstände des Verschwindens. Ich las einen Fall nach dem anderen:

Nummer 16: Am 23. Dezember 2010 verschwand die 13-jährige Juana Berenice Chávez. Es geschah in Irapuato, Guanajuato.

Nummer 15: Paula Carina García Ortega, 15 Jahre alt. Verschwunden in San Miguel de Allende, Guanajuato.

Nummer 777 und 779: Datum: 26 Januar 2011. Ort: Tlaltizapan, Morelos. "Vier bewaffnete Täter haben drei Personen, darunter zwei Minderjährige mitgenommen", so die Beschreibung der Umstände. Es waren Joel Martínez Pérez, vier Jahre, und Dulce Ivette Cardenas, 16 Jahre.

Nummer 12.565: Am 15.September 2011 verschwand die erst 15-jährige Hokusai Kendy Mejía Martínez in Oaxaca, Oaxaca. Letztes Lebenszeichen war ein Anruf bei ihrer Schwester. Sie sagte, dass sie an einem Polizeikontrollpunkt angehalten worden und nach ihren Ausweispapieren gefragt worden sei.

Nummer 769: Verschwunden am 23. Januar 2011 in Hidalgo del Parral, Chihuahua, nach einer gemeinsamen Operation der lokalen, der Landes- und Bundespolizei. Noel Jurado Duarte war 17 Jahre alt.

Nummer 753: Am 18. Januar 2011 wird in Mazatlán, Sinaloa an einer Kreuzung der 13-jährige Sergio N. entführt.

Obwohl die Zahl der Vermissten ständig stieg, verabschiedete die mexikanische Regierung erst im September 2011 eine Regelung für alle 32 Bundesstaaten über einheitliche Kriterien der Registrierung von "nicht lokalisierbaren" Personen.

Und ja, ein bedeutender Teil der aufgelisteten Menschen, die in Mexiko auf einer Autobahn, an einer Straßensperre, in ihrem Haus oder auf dem Gehsteig verschwanden, waren Kinder und Jugendliche.

Regelmäßige Aktualisierung

Die Existenz der Liste wurde von der neuen Regierung von Präsident Enrique Peña Nieto mehrere Wochen lang bestritten. Ende 2013 gab sie es dann doch zu. In der sechsjährigen Amtszeit von Enrique Peña Nieto (2012-2018) wurde die Liste institutionalisiert und die Regierung verpflichtet, sie regelmäßig zu aktualisieren und zu veröffentlichen. Bei den Fällen wird zwischen Vermissten und Verschwunden unterschieden. Beim Verschwindenlassen wird das Opfer gewaltsam entführt und die rechtlichen Umstände sind völlig andere als bei Vermissten.

Mexiko Drogenkrieg Protest
Immer wieder protestieren in Mexiko Menschen gegen die absurde Gewalt der DrogenkartelleBild: dapd

Der jüngste offizielle Datensatz des mexikanischen Sekretariats für Öffentliche Sicherheit gibt an, dass von 2007 bis April 2018 insgesamt 8.195 Personen Kinder und Jugendliche in Mexiko verschwunden sind. Das sind 682 Opfer pro Jahr, fast zwei pro Tag. Die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die entführt worden sind, macht fast ein Viertel der in diesem Zeitraum insgesamt 37.435 Opfer aus.

Im gleichen Zeitraum von 2007 bis 2018 war auch die Zahl der in Mexiko ermordeten Kinder und Jugendlichen dramatisch hoch. Nach offiziellen Regierungsangaben sind in diesen zwölf Jahren in Mexiko 27.173 unter 19-Jährige ermordet worden. Das sind 2.264 pro Jahr, sechs pro Tag.

Ab dem Jahr 2006 war ein deutlicher Anstieg der Gewalt in Mexiko zu verzeichnen. Vor allem, weil Beamte und Behörden bis in die höchsten Ebenen zu Komplizen des mächtigen Drogenkartells von Sinaloa wurden und dem Kartell dabei halfen, anderen Drogenkartellen Einflussgebiete zu entreißen. Dies wurde zum Auslöser des Krieges zwischen den Kartellen.

Es ist kein Frieden möglich, solange Kinder und Jugendliche das Kanonenfutter der von Erwachsenen geführten Kriege sind. Die Gewalt, die Mexiko in den zurückliegenden zwölf Jahren erlebt hat, ist beispiellos.

Die Journalistin und Buchautorin Anabel Hernández berichtet seit vielen Jahren über Drogenkartelle und Korruption in Mexiko. Nach massiven Morddrohungen musste sie Mexiko verlassen und lebt seitdem in Europa. Für ihren Einsatz erhielt sie beim Global Media Forum der Deutschen Welle in Bonn den DW Freedom of Speech Award 2019.