Die Pandemie hat die EU 2022 fest im Griff
27. Dezember 2021Der Rückblick auf das Jahr 2021 und die Vorschau auf das Jahr 2022 lassen sich für die Europäische Union in einem Wort zusammenfassen: Pandemie. Die Bekämpfung der Corona-Pandemie war das beherrschende Thema und wird das beherrschende Thema bleiben. Der neue deutsche Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), der künftig im Kreis der 27 EU-Gesundheitsminister eine gewichtige Stimme haben wird, hat das bereits klar gemacht. "Die Pandemie wird länger dauern, als wir das bisher geglaubt haben", sagte Lauterbach. Die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, ausgebildete Ärztin genauso wie Karl Lauterbach, sagte, die vierte Welle der Corona-Pandemie, die Europa in diesen Tagen fest im Griff hat, sei schon schlimm genug. Doch im Jahr 2022 könnte die nächste Prüfung warten.
Impfen, impfen, impfen
"Wir sehen uns einer neuen Bedrohung gegenüber - und zwar der Omikron-Variante", sagte von der Leyen in Brüssel. Gegen diese müsse die EU mit verstärkten Impfungen vorgehen. "Die Wissenschaftler sagen uns schon jetzt, dass Impfung und Auffrischung den stärksten Schutz gegen COVID bieten." Falls nötig, könnten die Impfstoffe an die Mutationen angepasst werden. Die EU habe entsprechende Verträge mit den Herstellerfirmen abgeschlossen.
Im ablaufenden Jahr hatte die EU-Kommission im Auftrag aller 27 Mitgliedstaaten rund eine Milliarde Impfdosen für EU-Bürgerinnen und Bürger beschafft. Weitere 350 Millionen wurden an die internationale Impfkampagne Covax der Vereinten Nationen abgegeben. Im neuen Jahr wird die EU mit der Beschaffung der Impfstoffe weitermachen. Die EU-Kommissionspräsidentin verspricht, mehr Produktionsanlagen - besonders in Afrika - zu fördern und mehr Impfdosen dorthin zu bringen. "Wir werden unsere Bemühungen verstärken, Afrika zu unterstützen, wo die Impfraten weltweit am niedrigsten sind", versprach Ursula von der Leyen kurz vor dem Jahreswechsel. Das Ziel für 2022 laute, "bis zur Jahresmitte sicherzustellen, dass 70 Prozent der Bevölkerung auf der Welt vollständig geimpft sein werden".
Quoten in vielen Mitgliedsländern zu niedrig
Unter heftiger Kritik der Regierungen in den Mitgliedstaaten der EU hatte die Zentrale in Brüssel 2021 den Impfstoff anfangs schleppend und dann immer reibungsloser beschafft. Nach der Ansteckungswelle im Frühjahr folgte ein relativ entspannter Sommer. In der ganzen EU gab es wieder Strandurlaub, Nachtleben, geöffnete Schulen und eine halbwegs entspannte Sorglosigkeit. Allerdings war die durchschnittlich in der EU erreichte Impfquote von 66 Prozent der Erwachsenen nicht ausreichend, um eine neue Infektionswelle - und eine teilweise Überlastung der Krankenhäuser in einigen Mitgliedstaaten im Herbst - zu verhindern.
Die Impfquoten in den Mitgliedstaaten sind sehr unterschiedlich und reichen von unter 30 Prozent in Bulgarien bis zu über 80 Prozent in Malta. Für die Impfkampagnen und die Schutzmaßnahmen wie Test- oder Impfpflicht am Arbeitsplatz, in Geschäften, Restaurants oder Schulen sind aber die Mitgliedstaaten alleine zuständig. Die EU konnte von Brüssel aus nur das heillose Wirrwarr der verschiedenen Maßnahmen und Regeln beobachten. Immerhin gelang es, die internen Grenzen der EU mit Hilfe des einheitlichen "Corona-Passes der EU" weitgehend offen zu halten.
Pflicht zur Impfung in der EU?
Die österreichische Regierung will eine allgemeine Impfpflicht einführen, ähnliche Überlegungen gibt es auch in Deutschland. Griechenland, Italien und weitere Länder haben sie für bestimmte Berufs- oder Altersgruppen vorgesehen. Auch die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sagte, die Debatte über eine Impfpflicht sei "angemessen und notwendig". Die Gesundheitsminister der EU werden Anfang des neuen Jahres schleunigst beraten, ob eine EU-weite Impfpflicht sinnvoll ist, denn es stellt sich natürlich die Frage, ob zum Beispiel Deutschland mit Impfpflicht irgendwann noch ungeimpfte EU-Bürger aus anderen Staaten einreisen lassen will oder kann. "Lassen Sie uns das Beste hoffen, während wir uns auf das Schlechteste vorbereiten", fasste von der Leyen ihre Pandemie-Strategie für 2022 zusammen.
Aufbau und Rechtsstaat
Die Erholung der Wirtschaft, die im Jahr 2021 in der EU wieder eingesetzt hatte, muss im Jahr 2022 möglichst weitergehen und ausgebaut werden. Irgendwann müssen auch die arg strapazierten Haushalte der EU-Mitgliedsländer wieder in Ordnung gebracht werden. Zur Erholung dient das 750 Milliarden Euro schwere Aufbauprogramm der EU, aus dem bereits erste Tranchen ausgezahlt werden. Von dem erstmals mit gemeinsamen Schulden finanzierten Programm profitieren hauptsächlich Länder im Süden und Osten der Union, allen voran Italien.
Polen und Ungarn bekommen noch kein Geld. Sie haben zwar ihre Investitionsprogramme eingereicht, aber die EU-Kommission will erst zahlen, wenn der Streit um den Zustand der Rechtsstaatlichkeit in Polen und Ungarn gelöst ist. Das Jahr 2021 war geprägt von einem erbitterten Streit um die Rechtsordnung und die Werte der EU, die von den nationalkonservativen Regierungen in Polen und Ungarn offen in Frage gestellt oder abgelehnt werden.
Die Fliehkräfte könnten im Jahr 2022 noch größer werden. Jetzt, wo die eher mäßigende deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel die politische Europa-Bühne verlassen hat, könnte es zum Showdown kommen. Das zumindest kündigt der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban an. "Eines ist sicher: Die Ära von Zweideutigkeit, Verschleierung und Zaudern ist mit Merkel abgelaufen. Wir bereiten uns jetzt auf eine Schlacht mit offenem Visier vor", sagte Orban zum Regierungswechsel in Berlin.
Macron will es wissen
Alle Augen werden 2022 auf Frankreich gerichtet sein. Der französische Präsident Emmanuel Macron stellt sich zur Wiederwahl im April. Gleichzeitig wird er der Ratspräsident der Europäischen Union sein. Macron will im Wahlkampf gegen eine rechte Front zeigen, dass er Europa wie versprochen verändert hat. Vor allem außenpolitisch will Macron die EU zu einem strategischen, "souveränen" Spieler machen. Bei einem "Strategie-Gipfel" im Frühjahr will er die übrigen 26 Regierungen auf außenpolitische Ziele gegenüber China, den USA, Russland und dem Rest der Welt einschwören.
Dazu soll die Außen- und Verteidigungspolitik der EU - wieder einmal - enger verzahnt werden. Macron hofft darauf, nach der eher zögerlichen Angela Merkel mit dem neuen deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz einen Verbündeten für seine Pläne zu finden. Die erste Bewährungsprobe könnte dem "souveränen" Europa schon ziemlich früh im Jahr blühen. Angeblich droht der russische Präsident mit einer Invasion in der Ukraine Ende Januar. Wie würde die EU, wie würde die NATO antworten? Die baltischen Staaten und Polen fordern schon seit langem mehr Schutz - auch durch die Europäische Union.
Schwelendes Drama: Migration
Der Umgang mit Migration, Flucht und Asylrecht ist ein ständiger Zankapfel in der EU, nicht nur an der Grenze zu Belarus, sondern auch am Ärmelkanal, vor den Kanaren, in Italien, in Griechenland und auf der Balkanroute. 2021 hat sich nichts bewegt. Wird 2022 eine Lösung bringen? Abwehren, abschotten oder Menschen aufnehmen und verteilen? Das sind nach wie vor die Gretchenfragen.
Die Hardliner in der Migrationsfrage können sich derweil eine EU ohne Asylrecht vorstellen, so wie etwa Balazs Orban, ein stellvertretender Minister in Ungarn. Das derzeitige System könne Menschen an der Grenze nicht stoppen, beklagte Orban. Amnesty International wirft der EU derweil vor, Menschenrechte und Asylrechte an ihren Grenzen immer weiter auszuhöhlen und Menschen zu gefährlichen Reisen zu zwingen.