Rückkehr der Elsass-Frage
6. Dezember 2018Zum Jubiläum kam der Staatspräsident persönlich nach Straßburg. Gemeinsam mit dem deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier erinnerte Emmanuel Macron mit einem Friedenskonzert an das Ende des Ersten Weltkriegs am 11. November 1918 und das nach einem weiteren Krieg folgende Jahrhundertwerk der deutsch-französischen Aussöhnung.
Auffallend wenig Elsässer haben ihren jungen Präsidenten damals Anfang November in Straßburg begrüßt. Vielleicht Zufall, aber womöglich auch ein Beleg dafür, dass es gerade knirscht zwischen dem selbstbewussten Volk der Elsässer und der Regierung in Paris. Ihre regionale Identität werde missachtet, kritisieren viele Elsässer mit Blick auf den Zentralstaat in Paris - vor allem seit 2016 das Elsass als politische Einheit aufgelöst wurde.
Von der politischen Landkarte verschwunden
Der damalige Präsident François Hollande ließ vor zwei Jahren im Zuge einer großen territorialen Neuordnung Frankreichs die historisch gewachsene Region Elsass mit den Nachbarregionen Lothringen und Champagne-Ardenne in der Großregion Grand Est aufgehen. Ein Kunstgebilde, doppelt so groß wie Belgien, das laut Umfragen mehr als 80 Prozent der Bewohner des Elsass bis heute ablehnen. Wieder einmal fühlen sich viele Elsässer als Spielball der großen Politik, die wenig Rücksicht auf die regionale Besonderheiten nimmt. Hauptsache, der Landstrich gehört zu Frankreich: So könnte man auch die wuchtige bronzene Bodenplatte verstehen, die am Pariser Arc de Triomphe die Rückkehr des Elsass nach Frankreich vor hundert Jahren feiert. Obwohl der deutsche Kaiser schon vor dem Waffenstillstand die Kontrolle über die Region verloren hatte, dauerte es nach einer kurzen, aber turbulenten Revolutionsphase noch bis Ende November, ehe die französische Armee den Landstrich vollkommen beherrschte. Am 8. Dezember 1918 feierten schließlich Staatspräsident Poincaré, Regierungschef Clemenceau und eine Reihe von Generälen in Metz die Wiederangliederung Elsass-Lothringens an Frankreich.
Kulturell über die Jahrhunderte eng dem deutschen Sprachraum verbunden, geriet die Region durch Ludwig XIV. erstmals unter die politische Kontrolle Frankreichs. Zwischen 1850 und 1950 schließlich wechselte das Elsass vier weitere Male die politische Zugehörigkeit. In diesem Dauerstreit zwischen Berlin und Paris konnte die Region aber zahlreiche Sonderregeln durchsetzen.
Elsässisches Recht
Schon das 1871 entstandene Deutsche Reich übernahm für das sogenannte Reichsland Elsass-Lothringen die damalige französische Gesetzgebung. "Zwischen 1871 und 1918 kamen dann die deutschen Gesetze als weitere 'Schicht' darüber", wie der Jura-Professor Robert Hertzog von der Universität Straßburg im DW-Gespräch erläutert. Nach dem nächsten Machtwechsel wiederum beließen die Franzosen einen Teil der deutschen Gesetzgebung – die bis heute Bestand hat.
Im Elsass und Teilen Lothringens gilt das alte Konkordat von 1801, der Staat bezahlt dort Priester, Pastoren und Rabbiner. Er muss darüberhinaus den Religionsunterricht sicherstellen und erlaubt theologische Fakultäten an staatlichen Universitäten. Im übrigen Frankreich dagegen herrscht eine strikte Trennung von Staat und Kirche.
Auch die Schul- und Sozialgesetzgebung im Elsass weist bis heute einige Besonderheiten auf. Damit die lokale Gesetzgebung nicht unter die Räder kommt, gibt es in Straßburg seit mehr als 30 Jahren ein öffentlich anerkanntes "Institut du Droit Local". Hier wachen Juristen über die lokale Gesetzgebung und verteidigen sie auch.
Zweisprachige Tradition
Zentrale Bedeutung für die Politik im Elsass hat auch das Thema Zweisprachigkeit. Noch in den 1960er und 1970er Jahren gab es Elsässer, die kein Französisch sprachen, sondern ihren Alltag mit dem alemannischen Dialekt meisterten. Ein Zustand, den der Zentralstaat nicht auf Dauer tolerieren wollte. Kinder, die im Nachkriegs-Frankreich auf dem Schulhof Elsässisch sprachen, wurden dafür mitunter auch körperlich bestraft.
Heute sprechen immer weniger der fast zwei Millionen Elsässer Mundart. Ein "Elsässisches Sprochamt" will dem mit Sprachkursen und Info-Kampagnen entgegenwirken. In gut 500 Theatergruppen im Land wird Elsässisch gesprochen.
Spürbarer Machtverlust
Diese Tradition und die Eigenständigkeit sehen viele Elsässer nun durch die neue Region gefährdet. Im Elsass unstrittige Förderprojekte wie die Stärkung der Zweisprachigkeit könnten in der Großregion unter die Räder kommen, so die Befürchtung. Zumal viele historische Besonderheiten im Elsass den strikten Anhängern der in der Verfassung beschriebenen "einen und unteilbaren Republik" schon immer ein Dorn im Auge waren.
Erste Hinweise, dass die elsässische Stimme nun weniger Gewicht entfaltet, gibt es bereits: Gerade erst wurde die wichtige Schnellzugverbindung Straßburg-Marseille durch eine Verbindung ersetzt, die nunmehr das lothringische Nancy mit der Mittelmeermetropole verbindet. Und weil die Region auch für Wirtschaftsförderung und Tourismus zuständig ist, fürchten viele Elsässer, dass auch hier die Geldflüsse in Zukunft stärker an ihnen vorbeilaufen könnten.
Auch das elsässische Straßburg gerät als regionales Zentrum unter Druck. Während die politischen Entscheider immer öfter aus Gründen der geographischen Zentrallage Lothringens in Metz oder Nancy tagen, treffen sich die Entscheider aus Wirtschaft und Zivilgesellschaft bevorzugt im Umfeld des Pariser Ost-Bahnhofs - die Verbindungen nach Paris sind besser als die zwischen den Provinzhauptstädten.
Europaregion als Lösung?
Der Frust vieler Elsässer spiegelt sich mittlerweile auch an den Wahlurnen wider. Bei den Parlamentswahlen im vergangenen Jahr schaffte es ein Kandidat der elsässischen Regionalpartei "Unser Land" zum ersten Mal in der Geschichte in die Stichwahl.
In Paris hat die Regierung derweil das Thema Elsass zur Chefsache gemacht. Nach langen Verhandlungen einigten sich unlängst Premierminister Edouard Philippe und Vertreter der beiden Departments Ober- und Unterelsass auf ein zehnseitiges Abkommen, das die Gründung einer "Europaregion Elsass" skizziert. Das wäre zwar keine Rückkehr zu einer politisch mächtigen Gebietskörperschaft Region Elsass, aber die Elsässer könnten in einigen Fragen wieder das Schicksal in die eigene Hand nehmen.
Die Zuständigkeit für die wichtige Autobahn A35 würde an die Europaregion fallen, sie könnte auch selbständig darüber entscheiden, junge Lehrer aus Deutschland anzustellen, und bekäme mehr Einfluss in den Themenbereichen Wirtschaft und Tourismus. Innerhalb von drei Jahren könnte diese Europaregion, die auch in grenzübergreifenden Fragen Kompetenzen erhalten soll, Wirklichkeit werden. Dass sich an der Zugehörigkeit zur Region Grand Est nichts ändern würde, erzürnt indes die Kritiker. In der Tat wäre die in Frankreich immer wieder kritisierte Vielfalt der Zuständigkeiten mit dieser Lösung um eine Variante reicher.