Die Streitmacht der Revolution
22. Februar 2018Ein paar Zigaretten, und dann rauf auf die Ladefläche. Vier Kilometer sind es aus dem Umland des Städtchens Erkner in Brandenburg zum S-Bahnhof im Zentrum. Eine Strecke, die man nicht immer gern zu Fuß geht, und so war es angenehm, dass man oft für ein paar Glimmstengel mit den Rotarmisten aus der nahe gelegen Kaserne der Sowjetarmee diese Strecke mitfahren konnte. Die Soldaten? "Sie waren immer nett", erinnert sich der nahe Erkner aufgewachsene Fotograf Christian Thiel an die sowjetische Besatzungszeit während der späten Jahre der DDR.
Fast ein halbes Jahrhundert, von 1945 bis zum Abzug der letzten Truppen im August 1994, war die Russische Armee im östlichen Teil Deutschlands stationiert. Sie war die militärische Vorhut des Sowjetreiches, gerichtet gegen das westliche, das kapitalistische Europa. Es war eine ernste Zeit, wenngleich zumindest gelegentlich auch offen für entspannte Momente. Etwa dann, wenn die Soldaten ihre Panzer zum Waschen an einen nahe gelegenen See fuhren. "Wenn sie ihre Schuhe auszogen, lachten wir uns halbtot", erinnert sich Thiel, "denn statt Socken trugen sie Fußlappen."
"Für die Russen waren wir Freiwild"
Diese lockere Atmosphäre setzte erst in den späteren Jahren der Sowjetpräsenz ein. 1945, Nazi-Deutschland hatte gerade den Zweiten Weltkrieg verloren, empfanden die Deutschen vor den Sowjetsoldaten vor allem eines: Furcht. Russen, erzählte man sich, nageln Kindern die Zunge auf den Tisch, sie sind dreckig, brutal und nicht rasiert. "Diese Schauergeschichten trieben Menschen in den Tod", erinnert sich die Zeitzeugin Ilse Ehreke, die damals elf Jahre alt war. Andere Deutsche waren weniger befangen, vor allem die Frauen. Einige von ihnen winkten den Russen zu. "Das waren doch unsere Feinde, dachte ich damals. Warum wurden die Frauen nicht als Verräter verhaftet? Ich habe das alles nicht verstanden."
Eines machen die Soldaten sehr schnell klar: Die Machtverhältnisse haben sich geändert. Kaum haben die Sowjets am 1. Mai den Reichstag eingenommen, hissen sie dort die Fahne der UdSSR. Der russische Fotograf Jewgeni Ananjewitsch Chaldei hat den Akt mit seiner Kamera festgehalten. Und auch, wenn es sich um eine womöglich nachgestellte Szene handelt, wurde das Bild doch zu einer Ikone der Fotografiegeschichte.
Zunächst breiteten sich unter dem roten Banner Gewalt und Gesetzlosigkeit aus, gerichtet vor allem gegen Frauen. "Für die Russen waren wir jetzt Freiwild", erinnerte sich in der Tageszeitung "Die Welt" etwa die Berlinerin Eva Schliep an die ersten Tage nach der Besetzung Berlins Ende April 1945: "Vergewaltigung, Erschießung und Plünderung, dazu der grenzenlose Hass auf die Deutschen, die dem russischen Volk so viel Leid zugefügt hatten, machten uns das Leben zur Hölle." Wie viele Frauen während der ersten Monate der Besatzungszeit missbraucht wurden, ist umstritten. Die Schätzungen gehen weit auseinander: Sie reichen von knapp 200.000 bis zu zwei Millionen.
Innige Feindschaft
1945 waren die Sowjetunion und Deutschland einander in inniger Feindschaft verbunden. Die Gründung der Roten Armee ging auch auf die demütigende Niederlage zurück, die die Deutschen den Russen im Ersten Weltkrieg beigebracht hatten. 1917 hatte das deutsche Heer weite Teile des zusammenbrechenden Zarenreichs erobert. Im Dezember jenes Jahres trafen sich Vertreter beider Staaten zu Friedensverhandlungen in dem Städtchen Brest-Litowsk, 180 Kilometer von Warschau gelegen. "Historische Umstände", schrieb Leo Trotzki, der Monate später die Gründung der Roten Armee organisierte, "hatten es so gefügt, dass die Delegierten des revolutionärsten Regimes, das die Menschheit je gekannt hat, an einem Tisch sitzen mussten mit den diplomatischen Vertretern der allerreaktionärsten Kaste unter allen regierenden Klassen".
Diese reaktionäre Kaste diktierte den Russen einen Frieden, der härter kaum sein konnte. Die sich formierende Sowjetunion musste weite Teile ihres Terrains an das deutsche Kaiserreich abtreten - eine demütigende Niederlage, die sich so nicht noch einmal wiederholen durfte.
Arbeiter werden Scharfschützen
Also machte Trotzki sich im Januar 1918 an den Aufbau einer sowjetischen, der "Roten" Armee. Dazu baute er auf der aufgelösten zaristischen Armee auf, aus der er auch zahlreiche Kommandeure rekrutierte. Jahre später zog er durchaus zufrieden ein Resümee seiner Arbeit.
"Der unbedeutende Prozentsatz von Analphabeten bei den Rekruten sinkt ständig", notiert er 1934. "Die Rote Armee entlässt aus ihren Reihen keinen einzigen Analphabeten. Innerhalb und außerhalb der Armee ist eine stürmische Entwicklung aller Sportarten zu beobachten. Im Laufe des vergangenen Jahres wurden allein in Moskau 50.000 Arbeiter aus zivilen Berufen und aus Schulen als Scharfschützen ausgezeichnet."
Die Armee, deutete Trotzki an, ist mehr als nur eine Militärische Organisation. Sie ist auch die Schule der Nation. Und sie trieb den Fortschritt voran: "Auf den Gebieten des Fallschirmspringens, des Segel- und Motorfliegens", schrieb Trotzki, "macht die Jugend große Fortschritte. Die sowjetischen Rekordflüge in die Stratosphäre sind in guter Erinnerung. Diese Gipfel charakterisieren eine ganze Bergkette von großen Leistungen."
Die große Säuberung
Aus Sicht des Diktators Stalin gefährdete die Armee potentiell aber auch dessen persönliche Macht. Den Machtkampf gegen ihren Gründer hatte er längst für sich entschieden und Trotzki 1928/29 ins Exil gezwungen. Aber auch zahllose Soldaten und sehr viele Kommandanten waren ihm suspekt, hatten sie doch einst dem Zaren gedient. Der kommunistischen Lehre ideologisch wenig bis überhaupt nicht verbunden, vielleicht sogar feindlich gegenüber eingestellt, waren sie für das Sowjetreich Stütze und Gefahr zugleich. So entschloss sich Stalin zur großen "Säuberung": Von 1937 ab ließ er knapp 35.000 Offiziere aus ihren Ämtern entfernen, weit über die Hälfte schickte er in Gulags. Viele Kommandeure wurden dort erschossen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg avancierte die Sowjetarmee zur zahlenmäßig stärksten Armee der Welt. Sie umfasste 170 Infanterie-, 35 Panzer- und 58 Artillerie-Divisionen, rund viereinhalb Millionen Soldaten standen in ihr unter Waffen. Noch viel größer war das Heer der Reservesoldaten: Es umfasste knapp 30 Millionen Mann.
Abzug aus Deutschland
Gewaltig war auch das Arsenal auf deutschem Boden. Als die Rote Armee 1994 aus Ostdeutschland abzog, hinterließ sie ein Netz von rund 1500 militärischen Anlagen. Rund eine halbe Million Soldaten machten sich auf den Heimweg. Mit sich nahmen sie rund 4300 Panzer rund 100.000 Kraftfahrzeuge, 3600 Geschütze und 180 Raketensysteme.
Dem kurz zuvor wiedervereinigten Deutschland war der Abzug viel Geld wert: Mit rund 7,5 Milliarden D-Mark (fast vier Milliarden Euro) beteiligte sie sich am Abtransport der militärischen Anlagen. Ausgedient haben die meisten bis heute nicht: Sie sind fester Bestandteil der Armee des Nachfolgestaats der Sowjetunion, der Russischen Föderation.