Die Suche nach Worten
15. Juni 2024Wörter haben Macht. Sprache schafft Wirklichkeit. Thesen, über die immer mal wieder gern gestritten wird. Ich stimme zu und denke, es ist klug, auf die eigenen Wörter achtzugeben. Sie so sorgsam zu wählen wie das passende Schuhwerk für den Tag oder den Wein zu einem guten Essen. Weiß auch schon die Bibel: „Wer unvorsichtig herausfährt mit Worten, sticht wie ein Schwert; aber die Zunge der Weisen bringt Heilung.“ (Sprüche 12,18)
Das gilt für alles Reden, das an andere Menschen gerichtet ist. Es gilt aber auch fürs Denken. Im Denken, da ist nichts verboten. Aber eine gewisse Sorgsamkeitspflicht gibt es auch da. Schon allein um unserer selbst willen: „Achte auf deine Gedanken, denn sie werden deine Worte. Achte auf deine Worte, denn sie werden deine Handlungen“, heißt ein Sprichwort.
Wörter für Gott: Gebet
Zwei Gedankenspuren dazu, die in ganz verschiedene Richtungen führen.
Erstens: Was für die eigenen Gedanken gilt, ist nicht unbedingt fürs Gebet gültig. Da kommt das Sprichwort an sein Limit. Manch böse Gedanken werden genau deshalb nicht zu Handlungen, weil ich sie im Gebet ausspreche: „Wie lange noch sollen die Frevler frohlocken? Sie reden so trotzig daher und Übeltäter rühmen sich! Zerschlag sie doch!“ (Psalm 94,3f) Vor Gott kann ich mir das erlauben. Kann Wut und Hass eingestehen. Und die wütenden Worte abgeben. Soll Gott daraus machen, was Gott für richtig hält. Nicht mein, sondern „dein ist die Rache, Gott“. (Psalm 94,1)
Worte beeinflussen Wirklichkeit. Und bei manchen Worten will ich gar nicht, dass sie meine Handlungen werden. Für Worte, die Wut, Hass oder Angst bewirken, ist das Gebet wie ein Ventil.
Wörter verweisen auf Wirklichkeit
Zweite Spur: Wenn Worte Wirklichkeit beeinflussen, dann ist die Gottesanrede eine besonders heikle Sache. „JHWH“. Mit diesen vier Buchstaben stellt Gott sich in der Bibel selbst vor. Sie sind jedoch alles andere als ein klassischer Name. Übersetzt heißen sie etwa: „Ich bin, der ich bin.“ Das ist kein Name, das ist die Verweigerung eines Namens! Als Mose Gott fragt, als wen er ihn denn bitte vorstellen dürfe beim Pharao, da bekommt er diese rätselhafte Antwort: „Ich bin, der ich bin.“
Das erinnert an Odysseus. Der trifft einen Riesen, der ihn fragt: „Wie heißt du?“ Odysseus antwortet: „Niemand“. Kurz darauf sticht er dem Riesen die Augen aus, doch als der um Hilfe ruft, denken alle nur, er sei nicht ganz richtig im Kopf: „Niemand hat mich geblendet!“
Aber der Gottesname „Ich bin, der ich bin“ soll niemanden hinters Licht führen. Er ist wie eine feste Zusage, auf die man sich verlassen kann, und die zugleich offen ist für Veränderung. „Ich bin, der ich bin“ kann bedeuten: Ich lasse mich zwar nicht auf einen Namen festlegen. Aber ich bin da. Ich bin für dich da.
Namen und Wörter haben Verweischarakter: Das Wort „Buch“ verweist auf gebundenes, bedrucktes Papier. „Berlin“ auf diese Stadt im Nordosten von Deutschland. Das kommt spätestens bei Personen an seine Grenzen. „Homo sapiens sapiens“ ist meine Gattung. „Vikarin“ mein Beruf. Aber für mich als „Komplettpaket“ gibt es nicht das eine passende Wort, das mich „einfängt“. Stattdessen habe ich einen Rufnamen. Er beschreibt mich nicht, und ich teile ihn mit Menschen, die mir nicht ähneln. Aber ich höre auf ihn.
Wörter für Gott: Gottesnamen
Noch weniger gibt es für Gott ein Wort, das ihn „einfängt“. Wir behelfen uns auch da mit einem Rufnamen: Nämlich „Gott“. Das Wort kommt von der indoeuropäischen Wurzel „ghau“, die so viel heißt wie: „(an)rufen“. „Gott“ ist also „der, den wir anrufen“.1 Und das tun wir mit den verschiedensten Hilfsnamen: Vater, Schöpfer, feste Burg. Sohn, Christus, Messias, Erlöser. Heiliger Geist, Trösterin, Lebensatem. Quelle der Liebe, Grund allen Seins. Du, Er, Sie. Barmherziger, Allmächtige. Am Ende bleiben diese Wörter aber Krücken und Metaphern. Jedes einzelne erhascht eine kleine Facette von Gott. Keine fasst Gott. Keine definiert Gott. Kein Name der Welt kann Gott auf irgendetwas festnageln.
Wer meint: „Der Name des HERRN ist eine feste Burg“ (Sprüche 18,10), muss erleben, dass Gott ebenso die ist, die alles ins Wanken bringt. Wer meint, Gott als Vater definieren zu können, wird darüber stolpern, dass Gott sich selbst mit einer stillenden Mutter vergleicht (Jesaja 66).
Die Vielzahl an Gottesanreden erinnert daran, dass wir kein Wort haben für die, die wir anrufen wollen. Für „Gott“.
Worte beeinflussen Wirklichkeit. Und da, wo wir nur falsche Worte haben, dürfen wir sie getrost trotzdem verwenden, so lange wir nicht vergessen, dass im Blick auf Gott alle Wörter, Metaphern und Personalpronomen hinken.
Zur Autorin:
Geboren 1994 in München, zog Anna Julia Weingart 2014 nach Berlin und studierte dort Evangelische Theologie an der Humboldt-Universität, davon ein Semester in Kyoto, Japan.
Nach Abschluss des Theologiestudiums im Sommer 2022 arbeitete sie ein Jahr als Redaktionsassistenz für die evangelischen Senderbeauftragten im Deutschlandradio. Seit September 2023 ist sie als Vikarin in München tätig.
Anna Weingart interessiert sich besonders für die Überschneidungen zwischen religiösen und alltäglichen Themen.
Dieser Beitrag wird redaktionell von den christlichen Kirchen verantwortet.