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"Die Ukrainer werden zu wahren Europäern"

29. September 2016

Wie geht die Ukraine 75 Jahre nach dem Massenmord in Babyn Jar mit dem Gedenken an den Holocaust um? Die Deutsche Welle sprach mit Josef Zissels, dem Vorsitzenden des jüdischen Dachverbandes.

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Ukraine Gedenkstätte Babi Jar in Kiew
Die 1991 in der Schlucht Babyn Jar errichtete Menora erinnert an die dort ermordeten JudenBild: picture-alliance/dpa/A. Stein

Deutsche Welle: In der Schlucht Babyn Jar bei Kiew wurden während der Nazi-Besatzung Zehntausende Juden und möglicherweise insgesamt bis zu 150.000 Menschen aus Kiew und anderen Städten erschossen. Babyn Jar ist ein Symbol des Holocaust, das den Juden, vor allem denen in der Ukraine, viel bedeutet. Welche Bedeutung hat Babyn Jar für Nicht-Juden?

Josef Zissels: Zuerst möchte ich einige Zahlen klarstellen. Forscher machen unterschiedliche Angaben dazu, wie viele Menschen in Babyn Jar getötet wurden: von 70.000 bis 200.000. Aus deutschen Dokumenten, aus dem Bericht der "Einsatzgruppe C", weiß man genau, dass dort allein in den ersten beiden Tagen, am 29. und 30. September 1941, mehr als 33.700 Juden, Männer und Frauen sowie Kinder und alte Menschen erschossen wurden. Auch im Oktober kam es zu Massenerschießungen von Juden. Getötet wurde dort bis 1943. Nicht nur Juden wurden getötet, aber zwei Drittel der in Babyn Jar erschossen Menschen waren Juden.

Babyn Jar ist für die Juden eine Tragödie, an die wir seit vielen Jahren erinnern. Sie ist ein Symbol des Holocaust. In der Sowjetzeit wurde diese Tragödie verschwiegen. Manche wussten mehr, andere weniger. Erst in der postsowjetischen Zeit, in der unabhängigen Ukraine, begann man über Babyn Jar zu sprechen und die Geschichte des Holocaust und der Juden zu erzählen - zuerst in jüdischen Schulen. Ab Mitte der 1990er-Jahre wurde dies auch an ukrainischen Schulen unterrichtet. Es gibt Seminare, Kolloquien und außerschulische Aktivitäten. Ich kann mit Sicherheit sagen, dass heute die Ukrainer über den Holocaust, die Tragödie von Babyn Jar, sehr viel mehr wissen als vor 20 Jahren.

Es ist sicher wichtig, die Fakten zu kennen. Eine andere Frage ist die Neubewertung der Vergangenheit, darunter die Rolle der Ukrainer bei den Ereignissen in Babyn Jar und anderen Städten. Wie steht es um die Erinnerungskultur?

Die Untersuchung der Vergangenheit und ihre Neubewertung müssen gleichzeitig und parallel verlaufen. Je mehr die Menschen erfahren, desto mehr Fragen entstehen. Natürlich müssen wir über die Rolle der lokalen Bevölkerung sprechen. Übrigens vermeide ich dabei eine ethnische Zuordnung, weil die lokale Bevölkerung sehr verschieden war. Unterschiedlich waren auch die Vertreter der lokalen Bevölkerung, die zur Polizei gingen und sich an den Aktionen unter deutschem Kommando gegen Juden beteiligten.

Deutschland Ukraine Josef Zissels
Josef Zissels, Vorsitzender des jüdischen Dachverbands in der UkraineBild: DW/N. Jolkver

Dieser Aspekt des Holocaust wird nach und nach auch dem Durchschnittsbürger der Ukraine klar. Ich war bei mehreren Diskussionen junger ukrainischer Politiker, bei denen ein Umdenken darüber stattgefunden hat, was man in der Ukraine früher nicht hören wollte oder konnte. Heute spricht man mehr darüber. Aber es genügt nicht, dass wir dies als einen globalen Prozess der Bewusstwerdung der eigenen Verantwortung betrachten. Auch in Westeuropa herrschte nicht sofort das Bewusstsein, dass der Holocaust nicht nur eine jüdische, sondern eine universelle Tragödie ist.

Anfang der 1990er-Jahre fand man bei Buchständen in Kiew viel antisemitische Literatur. Adolf Hitlers "Mein Kampf" konnte man frei kaufen. Wie sieht es heute aus?

Seit 1990 befasse ich mich beruflich mit der Beobachtung antisemitischer Vorfälle. Ich analysiere die Lage. Die Ukraine ist heute eines der Länder in Europa mit der niedrigsten Anzahl antisemitischer Vorfälle. Was die Literatur angeht, so war das damals vor allem von der Russischen Orthodoxen Kirche verteiltes Material, das von ihr und marginalen rechtsradikalen ukrainischen Kräften herausgegeben wurde. Von all dem gibt es heute viel weniger.

Welche Veränderungen haben diesbezüglich die Ereignisse der Bürgerproteste auf dem Maidan und der Krieg im Osten der Ukraine gebracht?

All dies verändert die Lage. Das Wichtigste ist, dass die Ukrainer in all diesen Jahren nach und nach ihre Identität verändert haben. Sie werden mehr und mehr zu wahren Europäern. Allerdings verläuft diese Entwicklung langsam und kontrovers. Aber gerade sie hat dazu geführt, dass es zum Maidan gekommen ist - zum ersten (2004) und zum zweiten (2013/2014). Der Krieg war eine Reaktion auf den Maidan.

Vor einem Jahr sagten Sie in einem Interview, die Juden in der Ukraine würden "erst jetzt" beginnen, sich als ukrainische Juden zu begreifen.

Ich sehe drei Stufen: Es gibt sowjetische Juden. Das waren wir alle vor 1991. Dann wurden wir zu Juden in der Ukraine, und jetzt, nach dem zweiten Maidan, sehen wir, dass es ukrainische Juden gibt. Die jüdische Gemeinde in der Ukraine beginnt, sich nach und nach mit der Ukraine zu identifizieren, nicht mehr mit der Sowjetunion und nicht nur mit irgendeinem Gebiet, das nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entstanden ist. Dies gilt vor allem für junge Menschen.

Gibt es heute in der Ukraine viele junge Juden? Viele wandern doch nach Israel, Deutschland und in die USA aus.

Es gibt junge Leute. Weniger, als wir gerne hätten, aber es gibt eine jüdische Jugend in der Ukraine. Ich habe sie auf dem Maidan gesehen: Das ist eine religiöse jüdische Jugend. Aber unser demographisches Bild ist insgesamt nicht sehr erfreulich. Mehr als die Hälfte der Menschen sind im Rentenalter. Viele junge Menschen wandern tatsächlich nach Israel aus. Aber in den letzten zwei bis drei Jahren sind das vor allem Menschen aus dem Kriegsgebiet. 70 Prozent der jüdischen Auswanderer stammen aus dem Donbass.

Josef Zissels ist Vorsitzender der Vereinigung jüdischer Organisationen und Gemeinden (VAAD) in der Ukraine.

Das Gespräch führte Efim Schuhmann.