Die ungleichen Kanzler
23. Dezember 2013Braucht ein Politiker Leidenschaft, um seine Sache gut zu machen? Ganz bestimmt nicht, widersprach Helmut Schmidt kürzlich einem Fernsehreporter in seiner typisch knappen Art: "Willen braucht man - und Zigaretten!"
Leidenschaft hat der stark rauchende Helmut Schmidt, Bundeskanzler von 1974 bis 1982, tatsächlich nie ausgestrahlt - und auch selten geweckt. Vielleicht ist das der schärfste Gegensatz zu seinem Vorgänger: Schmidt wurde geschätzt und respektiert, Willy Brandt dagegen wurde von vielen verachtet, als "Exilant" und "Kommunistenfreund" beschimpft - vor allem aber wurde er geliebt. Schon bevor er 1969 als erster Sozialdemokrat zum Kanzler gewählt wurde, sahen viele in ihm den "deutschen Kennedy": jung, smart, umschwärmt.
Brandt habe sich von Anfang an durch seine charismatischen, herzzerreißenden Auftritte profiliert, meint der Historiker und Publizist Norbert Seitz. "Aber auch die Art und Weise, wie er seine Abgänge zelebrierte, sei es als Kanzler oder 1987 dann als Parteivorsitzender - das waren hochemotionale Ereignisse." Als die Opposition ihn 1972 mit einem konstruktiven Misstrauensvotum stürzen wollte, gingen Tausende aus Protest auf die Straße, viele Arbeiter traten in den Streik. Millionen bangten schließlich vor dem Fernseher darum, dass ihr "Willy", wie der Kanzler oft mit einem fast zärtlichen Unterton genannt wurde, im Amt bleiben konnte. "Bei Helmut Schmidt war es eher Anerkennung", sagt der Historiker Seitz. "Und Respekt - gerade vor seiner Entscheidungsfreudigkeit, vor seinem Mut in kritischen Situationen."
Der Emigrant und der Wehrmachtssoldat
So gegensätzlich die beiden SPD-Kanzler als Politikertypen waren, so kompliziert war ihr Verhältnis zueinander. Sie waren Konkurrenten, in inhaltlichen Fragen manchmal auch Gegner. Ihre unterschiedlichen Politikstile, Schmidts "kalte Schnauze" und Brandts gewinnende, aber oft auch zögerliche Art, prallten aufeinander. Immer wieder kritisierte Schmidt Brandts angebliche Führungsschwäche, auch öffentlich. Aber waren sie auch Feinde, wie manche behaupten?
Der Journalist Gunter Hofmann hat ein Buch über die beiden SPD-Politiker geschrieben und bezweifelt das: Helmut Schmidt habe sich im Gegenteil immer um Brandts Freundschaft bemüht, auch in den Briefen, die sich die beiden über Jahrzehnte geschrieben haben: "Dort wirbt er zwischen den Zeilen um Anerkennung des Älteren - und Brandt gewährt sie ihm letztlich nicht ganz. Vielleicht war ihm Schmidt einfach zu fremd."
Die beiden trennen nur fünf Lebensjahre, aber manchmal waren es Welten. Willy Brandt, der Ältere, war von Beginn an in Opposition zum Hitler-Regime getreten, die Nazizeit hatte er im Exil in Norwegen verbracht. Helmut Schmidt dagegen war als Wehrmachtssoldat in den 2. Weltkrieg gezogen, hatte als Offizier unter anderem an der Ostfront Dienst getan. Ein Mitläufer, ein Angepasster - später hat er das bereut: "Schmidt hat darunter gelitten, dass er nicht diese Weitsicht hatte wie Brandt", sagt Buchautor Hofmann. Auch als Politiker bleibt er jemand, der vor allem seine Pflicht erfüllen wollte: Er arbeitete diszipliniert, fraß sich in nächtelanger Kleinarbeit durch Berge von Akten, immer bereit, schnell und konsequent Entscheidungen zu treffen. Brandt dagegen galt als weich, nachgiebig, er agierte oft spontan, manchmal aber auch mutlos.
Mehr Demokratie wagen: Willy, der Visionär…
Was hat die beiden Jahrhundertpolitiker in ihren frühen Politikerjahren geprägt? Bei Willy Brandt war es vor allem der Bau der Berliner Mauer 1961, der in seine Zeit als Regierender Bürgermeister Berlins fiel. Es ging nicht darum, zu handeln, sondern darum, die richtigen Worte zu finden. Brandt fand sie - und gleichzeitig das Leitthema seiner späteren Kanzlerschaft. Die Annäherung an die DDR und die Staaten des Warschauer Pakts, seine "Neue Ostpolitik": Sie ist bis heute als zentrales Element seiner Regierungszeit in Erinnerung geblieben. Die Treffen mit dem damaligen sowjetischen Parteichef Leonid Breschnew, die Ostverträge. Der erhebende Moment, als Brandt bei einem Staatsbesuch im Warschauer Ghetto auf die Knie sank - man weiß bis heute nicht genau, ob er dabei einfach nur einem spontanen Impuls folgte. Brandt hatte stets die Vision eines friedlichen Europas vor sich: „Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein und werden, im Innern und nach außen“, so hatte er es schon in seiner ersten Regierungserklärung im Oktober 1969 beschrieben. Mit seinem zweiten Leitsatz "Wir wollen mehr Demokratie wagen" sandte er an die deutschen Bürger das Signal, dass er es ernst meinte mit dem Aufbruch in eine offenere, freiere Gesellschaft.
…und Brandt, der Zauderer
Doch er hatte auch eine andere Seite, dieser geliebte Kanzler, der von vielen aber auch so offen angefeindet wurde: "Ich liege ab und zu mit einer Erkältung einige Tage, die dann wohl auch Ausdruck einer gewissen Erschöpfung ist" - so beschrieb er selbst die Zustände, die ihn gegen Ende seiner Kanzlerschaft immer öfter befielen. Andere sprachen ganz offen davon, dass Brandt unter Depressionen litt, im Bett lag, unfähig, dringend anstehende Entscheidungen zu treffen.
Kurs halten: Schmidt, der Macher und Manager
Helmut Schmidt dagegen musste sich früh als Krisenmanager bewähren: 1962 war er Innensenator in Hamburg, als die Stadt von einer Flutwelle überschwemmt wurde. Der junge Politiker Schmidt lief zur Hochform auf: Er nutze seine Kontakte zur Bundeswehr und zur NATO und forderte kurzerhand Soldaten und Material zur Unterstützung an - was die deutsche Verfassung eigentlich verbietet. "Sie liefen alle durcheinander wie die Hühner und es brauchte jemanden, der die Zügel in die Hand nahm" - so beschrieb er selbst im Rückblick seine Rolle.
Auch später, als Kanzler, war der Macher Schmidt gefragt: Die Reformeuphorie der ersten Jahre der Regierung Brandt war schnell verflogen. 1973 folgte der "Ölpreisschock", gleichzeitig zog eine weltweite Wirtschaftskrise herauf: ein Berg von Problemen, vor denen Helmut Schmidt stand, nachdem er Willy Brandt 1974 nach dessen Rücktritt wegen einer Spionageaffäre im Kanzleramt abgelöst hatte.
Als die terroristische "Rote Armee Fraktion" (RAF) im Herbst 1977 die Bundesrepublik mit Anschlägen, Morden und schließlich mit der Entführung der Passagiermaschine "Landshut" in Atem hielt, waren wieder Helmut Schmidts Fähigkeiten als Krisenmanager gefragt. "Die Bundesrepublik war in einem Suchprozess, und die RAF war nur der extremste Ausdruck der äußerst unruhigen Verhältnisse", so beschreibt der Journalist Hofmann die späten 1970er Jahre. Die neuen Bürgerinitiativen, die Wucht der Umwelt- und Friedensbewegung - was Willy Brandt mit feinen Antennen stets erkannt und zum Teil auch unterstützt hat, blieb Schmidt weitgehend fremd. Nach dem Ende seiner Kanzlerschaft stand er auch in der SPD fast alleine da: gegen eine überwältigende Mehrheit, die gegen den Plan ihres ehemaligen Kanzlers stimmte, in Deutschland im Rahmen des "NATO-Doppelbeschlusses" neue US-Raketen zu stationieren.
Übervater oder Projektionsfläche?
Hier der Macher Schmidt, dort der zaudernde Brandt: Nach Meinung von Buchautor Hofmann sind diese Zuschreibungen auch Klischees - die beide in der Öffentlichkeit aber offensiv gepflegt hätten: "Brandt konnte bei bestimmten Gelegenheiten ein ganz harter Realpolitiker sein - und in vielen Fragen war Helmut Schmidt ein ganz großer Zauderer, auch wenn er es nicht erkennen lassen wollte." Allerdings habe man bei Brandt über viele - auch umstrittene - Entscheidungen eher hinweggesehen - gerade auch innerhalb der SPD. "Man hat ihn im Nachhinein auch oft größer gemacht, als er war. Aber er war eben Projektionsfläche für viele, und das war Schmidt nicht."