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"Die Voraussetzungen für Frieden in Afghanistan sind besser als früher"

Detlev Karg23. November 2001

Fragen an Dr. Andreas Rieck, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Orient-Institut in Hamburg und Afghanistan-Experte.

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Welche Chancen sehen Sie für einen Neubeginn in Afghanistan?

"Die sich jetzt herausbildende innenpolitische Konstellation in Afghanistan ähnelt der der Jahre 1992-95. Es gibt eine Zersplitterung des Landes in Machtbereiche rivalisierender bewaffneter Gruppen, die größtenteils von denselben Personen angeführt werden wie schon damals. Einige Faktoren geben aber Grund zu Optimismus, daß diesmal ein Ausweg aus Bürgerkrieg und Staatszerfall gefunden werden kann."

Welche äußeren Bedingungen zählen Sie dazu?

"Zum einen wollen die USA, Europa, Rußland und andere Staaten einen Rückfall Afghanistans in Anarchie zu verhindern. Besonders die USA scheinen erkannt zu haben, daß es ein Fehler war, Afghanistan nach dem Abzug der Sowjets seinen internen Machtkämpfen und der Einmischung seiner unmittelbaren Nachbarn zu überlassen. Zudem ist Pakistan kooperativer geworden, nachdem dieses Land zweimal mit dem Versuch gescheitert ist, seinen paschtunischen Favoriten zur Vorherrschaft in Afghanistan zu verhelfen: Sowohl 1992-94 der Hizb-i Islami von Gulbuddin Hekmatyar undjetzt den Taliban."

Welche Rolle spielen Iran und Pakistan am Hindukusch?

"Diese beiden größten Nachbarstaaten führen seit dem Abzug der Sowjets 1989 eine Art unerklärten Stellvertreterkrieg um Einflußzonen in Afghanistan Von 1992 bis 1994 hatte Iran dabei die Oberhand, seit 1995 bis zum Zusammenbruch der Taliban Pakistan. Mit dem Durchmarsch der Nordallianz hat sich das Blatt erneut zugunsten Irans gewendet. Dennoch sitzt Pakistan wahrscheinlich am längeren Hebel, wegen der 2000 km langen gemeinsamen Grenze mit Afghanistan und der 15-20 Millionen Menschen zählenden paschtunischen Volksgruppe im eigenen Land. Pakistan hat zwar die Taliban fallen gelassen, aber wenn Iran und die Nordallianz jetzt den Bogen überspannen, könnte es bald neue paschtunische Kräfte gegen Kabul mobilisieren. Pakistan ist als Transitland für Afghanistan unentbehrlich, hat aber auch mehr als Iran von einer Stabilisierung der Lage in Afghanistan zu gewinnen."

Wie stehen die Chance für ein Umdenken der Kräfte in Afghanistan?

"Die neuen Machthaber in Kabul wissen, daß sie auf die Unterstützung der USA angewiesen sind, sowohl um ihre militärische Position zu konsolidieren, als auch für den Wiederaufbau Afghanistans. Gerade bei der Zuteilung dringend benötigter Finanzmittel für den Wiederaufbau können die westlichen Staaten und Japan viel richtig dosierten Druck auf die afghanischen Parteien ausüben, sich kooperativ zu verhalten. Nach der Erfahrung von neun Jahren fruchtlosen Bürgerkriegs seit dem Sturz des Najibullah-Regimes, davon sechs Jahre der Unterdrückung durch die Taliban, sollten die Führer der Nordallianz, aber auch die neuen Machthaber im paschtunischen Süden, etwas dazu gelernt haben."

Was macht der Westen richtig und was macht er falsch?

"Richtig war und bleibt das von Anfang an erklärte Ziel, die Taliban mit militärischer Gewalt ganz und gar von der Macht zu entfernen, weil dieses Regime nur das ganze Land mit noch mehr Krieg überzogen und ins finsterste Mittelalter zurückgeworfen hat. Dass die USA dafür aber bisher nur das Mittel von Luftangriffen aus sicherer Höhe gewählt haben, die täglich viele Unschuldige treffen, halte ich für ein Armutszeugnis, das auch politischen Schaden angerichtet hat. Die USA und ihre Verbündeten hätten von Anfang an Bodentruppen auf das Gebiet der Nordallianz entsenden sollen. Auch das fast menschenleere Gebiet südwestlich von Kandahar wäre dazu geeignet gewesen, eine Drohkulisse aufzubauen. Jetzt, wo die Nordallianz in Kabul, Mazar-i Sharif und andere afghanische Städte eingerückt ist, wird es sehr schwer sein, deren Zustimmung für die Entsendung ausländischer Truppen dorthin zu erreichen."

Sind die vier Gruppen, die in Bonn konferieren werden, repräsentativ?

"Die Nordallianz ist zwar nicht repräsentativ im Sinne einer demokratischen Legitimation, wohl aber in ihrer Eigenschaft als derzeitige De-facto-Herrscher über die Hälfte Afghanistans. Die drei anderen Gruppen haben derzeit noch keine gefestigte Machtbasis im Land, sind aber als potenzielle Vertreter der paschtunischen südlichen und südöstlichen Landesteile ein angemessenes Gegengewicht zur Nordallianz. Der Übergang von den nur durch Waffengewalt und auswärtige Unterstützung legitimierten heutigen Machthabern zu vom Volk gewählten Vertretern wird eine jahrelange Vorbereitungszeit erfordern und ist nicht ohne die Kooperationsbereitschaft der jetzigen Machthaber möglich."

Was muss in Afghanistan geschehen, damit Organisationen wie Al Qaida dort keinen Unterschlupf mehr finden können?

"Dazu reicht schon fast die Vertreibung der Taliban aus den jetzt noch von diesen gehaltenen Städten. Vielleicht können sich Reste der Taliban - von denen die meisten einfach zu den neuen paschtunischen Führern überlaufen werden - in einigen entlegenen Gebieten noch ein paar Monate lang halten und dort auch Mitgliedern der Al Qaida Schutz bieten, aber die meisten ausländischen "Gotteskrieger" werden entweder versuchen, sich über Pakistan abzusetzen oder in naher Zukunft gefangen oder getötet werden."

Wussten die Menschen in dem Land eigentlich, warum der Krieg der Amerikaner begann?

"Auch wenn nicht viele Afghanen über ein Radio verfügen, verbreiten sich wichtige Nachrichten schnell im Land. Für die meisten Afghanen dürfte von Anfang an klar gewesen sein, daß Bin Laden der Grund war, zumal der UN-Sicherheitsrat schon Ende 2000 verschärfte Sanktionen gegen die Taliban verhängt hatten, um diese zur Auslieferung Bin Ladens zu zwingen. Allerdings hat die wochenlange Bombardierung von Kabul, Kandahar und anderen Städten sehr viel böses Blut selbst bei denjenigen provoziert, die keinerlei Sympathien für die Taliban hatten."

Wäre der Führer der Nordallianz, Burhanuddin Rabbani, ein legitimes Staatsoberhaupt?

"Nein. Er ist 1992 zunächst nur für vier Monate als Interimspräsident von einem Rat der Mujaheddin-Parteien ernannt worden und hat seitdem mit immer neuen Tricks und Vorwänden seine Amtszeit verlängert. Wenn er jetzt versucht, mit Hilfe der UNO erneut legitimiert zu werden, ist er eher ein Hindernis für eine gesamt-afghanische Friedenslösung."