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Die Welt mit den Augen eines Autisten sehen

Gudrun Heise
Veröffentlicht 1. April 2022Zuletzt aktualisiert 2. April 2024

Oft werden Autisten von anderen einfach in bestimmte Schubladen gesteckt. So einfach ist das aber nicht, denn den typischen Autisten gibt es nicht. Das wissen Betroffene wie Ricky Zehrer am besten.

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Symbolbild | Autismus
Autisten können zu viele Sinneseindrücke meist nicht verarbeitenBild: Uwe Zucchi/dpa/picture-alliance

Autisten wissen, wovon sie reden, wenn sie sich und ihre Situation beschreiben. Sie sehen Autismus aus einer anderen, aus ihrer eigenen Perspektive, so wie Ricky Zehrer. "Autismus ist als tiefgreifende Entwicklungsstörung definiert. Aber es ist anders: Autismus ist angeboren. Das Gehirn funktioniert etwas anders als bei Nicht-Autisten. Aus meiner Sicht ist es vor allem eine Frage der Wahrnehmung und die Frage, wie ein Autist Ereignisse filtert." 

40. Wie geht eigentlich Autismus?

Bei den meisten Autisten fehlt dieser Schritt des Filterns oder er ist nicht so ausgeprägt. Etwa elf Millionen Sinneseindrücke werden pro Sekunde von unserem Gehirn verarbeitet. Nur etwa 40 davon nehmen wir bewusst wahr. Nicht alles wird zur Weiterverarbeitung an das Gehirn geleitet, denn es ist nicht darauf ausgerichtet, all die Informationen, auf die wir tagtäglich treffen, zu sortieren und zu verarbeiten.

Folglich selektieren wir. Bei Autisten wie Zehrer ist das anders. "Ich bekomme quasi alles, was ich sehe, fühle und erlebe, unverdünnt vorgesetzt, und damit muss ich dann zurechtkommen." Diese Überstimulation bedeutet permanenten Stress. 

Autisten versuchen, ein "Zuviel" zu vermeiden

Autisten gehen unterschiedlich mit der Reizüberflutung um, die auf ihr Gehirn einwirkt. Und so versuchen sie, aus der Situation rauszukommen und all das abzuwehren, was einfach zu viel ist.

Das sei eine erste, wichtige Maßnahme und nötig, um den Alltag einigermaßen bewältigen zu können, sagt Zehrer. Die Reize, die im Gehirn ankommen und die einem Autisten Probleme bereiten, sind ganz unterschiedlich.

Licht ist beispielsweise ein Faktor. "Ich gehe nur mit Sonnenbrille raus. Im Auto nutze ich Blendschutzscheiben", sagt Zehrer. "Ich bin extrem lichtempfindlich. Jemand anders kann sich vielleicht problemlos in den Scheinwerfer stellen. Manche können Augenkontakt überhaupt nicht aushalten. Andere wiederum starren ihr Gegenüber an", erklärt Zehrer. Aber irgendetwas sei immer anders. 

Während Zehrer große Schwierigkeiten mit intensiven Lichtverhältnissen hat, reagieren andere extrem auf Geräusche. Sie müssen sich vor diesen Geräuschen schützen, damit sie ihr Gehirn nicht überladen und damit nicht alles aus dem Ruder läuft. Vielen geräuschempfindlichen Autisten fällt es beispielsweise schwer, die Stimme eines Gesprächspartners aus Hintergrundgeräuschen herauszufiltern. Dann wird ihnen schnell alles zu viel, im Gehirn entsteht Chaos.

Tschechien Böhmen Buchenurwald
Selbst in entspannter Umgebung kann es bei Autisten zu einer Reizüberflutung kommen Bild: LIANEM/Zoonar/picture alliance

Mit Geräuschen gegen Geräusche angehen

Gewinnen Geräusche die Übermacht, gebe es verschiedene Möglichkeiten, dies zu beeinflussen, sagt Ricky Zehrer. Eine Option seien Kopfhörer, die Geräusche unterdrücken. Hilft das nicht, nutzen Autisten häufig auch das sogenannte Stimming, was so viel wie "selbstregulierendes Verhalten" bedeutet. Auch das kann vor Reizüberflutung ein wenig schützen. Diese Methode wirkt beruhigend und kann inneren Druck abbauen. 

Motorische Abläufe wie etwa Wippen oder Springen gehören dazu, aber auch die Erzeugung verschiedener Laute wie beispielsweise Zählen oder das Schnippen mit den Fingern. So wird ein störender Reiz, der alles andere überlagert, mit einem Reiz überdeckt, der kontrollierbar ist.

"Für jeden nachvollziehbar ist es, wenn es irgendwo juckt. Jucken ist ein unkontrollierter, extrem unangenehmer Reiz. Der Betroffene kann diesen Reiz mit Schmerzen überdecken, etwa mit Kratzen. Das heißt, über den unkontrollierten, unangenehmen Reiz legt sich ein kontrollierter, selbstausgelöster Reiz, und der ist einfacher zu ertragen", erklärt Zehrer. Sie selbst beiße sich in solchen Situationen beispielsweise in die Wange. 

Wenn rausgehen zum Problem wird

Eine der Eigenarten, die oft mit Autismus in Verbindung gebracht werden ist, dass Autisten große Probleme haben, unter Menschen zu sein.

Mit solchen Situationen wird auch Ricky Zehrer häufig konfrontiert. "Ich vergleiche das gerne mit einem Waschbecken. Jeder Reiz, der reinkommt, ist wie ein bisschen Wasser, das hineingekippt wird. Das kann ein Fingerhut voll sein. Das kann eine Tasse sein. Das kann ein Eimer sein. Bei einem Nicht-Autisten kann ich jede Menge Wasser hineinkippen. Das läuft alles ab. Beim Autisten hingegen verstopft der Abfluss." Der Stresspegel steigt immer weiter an. 

Dem Gegenüber in die Augen sehen

Was bei autistischen Menschen oft als charakteristisch angeführt wird, ist der Mangel an Blickkontakt. Zehrer erzählt von einer blinden Freundin. Sie zu treffen sei eine äußerst angenehme Situation, denn sie müssten sich nicht anschauen. Bei Menschen, die sehen können, sei das eben anders. Sie suchten den Blickkontakt zum Gegenüber.

"Diese ganze Partie im Gesicht bewegt sich ständig. Und dadurch, dass mir mein Hirn ja alles ungefiltert hinwirft, sehe ich jede dieser Bewegungen, jedes Zucken, jedes Blinzeln. Da ist dann einfach viel zu viel los. Ich kann mich dann auf nichts konzentrieren." Es entsteht Unordnung im Kopf, die nicht bewältigt werden kann.

drei Frauen - zwei Frauen unscharf im Vordergrund, eine im Hintergrund
Autisten schotten sich oft abBild: U. Grabowsky/photothek/picture alliance

Autisten und Gefühle

Autisten seien gefühlsarm, heißt es oft. Dafür hat Zehrer eine Erklärung: "Bei Autisten ist oft nicht zu wenig, sondern eher zu viel eigenes Gefühl da. Und auch ein Gefühl ist ein Reiz. Und bei einigen ist es so, dass sie gar nicht so genau wissen, wie sie sich gerade fühlen." Es sei einfach alles viel zu durcheinander. Es fehle die Zeit, Gefühle zu sortieren und zu ordnen. Die meisten Autisten seien sowieso viel zu beschäftigt damit, sich so zu benehmen wie Nicht-Autisten. Das koste Kraft und Energie.

Autisten leisten oft überdurchschnittlich viel

Autisten versuchen, äußere Reize jeglicher Art so gut wie möglich zu reduzieren, um sich nicht einer Reizüberflutung auszusetzen. So sind sie in der Lage, sich nur auf eine einzige Sache zu konzentrieren, alles andere bleibt außen vor.

Dieser Zustand könne aber durch kleine Dinge massiv gestört werden, etwa durch das Flackern einer Lampe. Dieser Hyperfokus, die absolute Konzentration auf eine einzige Sache, kann durchaus negative Folgen haben. Bei einem Autisten kann es sein, dass sich kein Hungergefühl einstellt oder auch, dass die Person keinen Durst hat - egal ob es draußen kalt oder heiß ist.

Alles konzentriert sich eben nur auf eines. Das kann die Lösung komplizierter mathematischer Aufgaben sein oder etwa das Entwickeln einer Software. Wegen dieser Eigenschaften sind Autisten mittlerweile sehr beliebt in Hightech-Unternehmen, denn sie lassen sich meist durch nichts und niemanden von der Arbeit ablenken. 

Achtsamkeit ist wichtig

Ideale Bedingungen für das Leben eines Autisten gibt es nicht. Jedes Geräusch oder auch blinkende Lichter können den Reizpegel verstärken und damit den Stress. Dafür aber gibt es keine gängige Maßeinheit, die auf alle zutrifft.

"Ich empfehle in der Regel anderen Autisten eine Sport-Watch, die Blutdruck und den Puls misst. Daran kann man ganz gut ablesen, wie hoch der Stresspegel gerade ist", sagt Zehrer.

Und der Stresspegel kann sogar in eigentlich entspannten Situationen ansteigen. "Ich kann in den Wald gehen, da ganz für mich alleine sein und trotzdem mein Gehirn überladen, weil im falschen Moment vielleicht das Licht aus der falschen Richtung kommt, weil ich zu viel rieche, weil ein Vogel singt, der nicht eingeplant war. Es gibt keine Umwelt, in der ich als Autist nicht auf meinen Autismus achten müsste."