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Die Witwen von Privelack

18. August 2002

Norddeutschland erwartet die Flut: Am Elbdeich von Privelack in Niedersachsen sind die Häuser alt und von beeindruckenden Ausmaßen. Große Bauernfamilien haben hier einst gewirtschaftet. Heute ist es einsam am Deich.

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Es kommt, wie es kommtBild: Bilderbox

Neben einem zugereisten Hamburger Ehepaar leben nur noch vier Witwen in Privelack, mit Katzen, Hühnern und einem Hund. Ella-Marie Bausch ist 82, ihre Nachbarin Elisabeth Kröpke zehn Jahre jünger, deren Schwägerin Waltraud Rieken ist 73 und Selma Rosteck ist mit 71 die Jüngste im Quartett. "Angst vor dem Hochwasser hat man nicht, wenn man hier aufgewachsen ist", sagt Elisabeth Kröpke stellvertretend für die anderen. "Im Alter hängt man auch nicht mehr so sehr an den Dingen. Und heil rauskommen werden wir hier ja wohl", ergänzt Waltraud Rieken.

Warten auf den Ernstfall

Noch ist in den Häusern alles beim Alten. Nur bei Ella-Marie Bausch, die seit 1945 verwitwet ist und seitdem allein in der Landwirtschaft gerackert hat, sieht es langsam, aber sicher, nach Evakuierung aus. Verwandte von der westlichen Elbseite sind angerückt und haben kostbare alte Erbstücke aufgeladen und in Sicherheit gebracht. Ella-Marie, weißlockig und mit Augen so blau wie das Elbwasser, wenn sich der Sommerhimmel darin spiegelt, sitzt etwas ratlos auf dem letzten ihr verbliebenen Sessel, das Telefon auf dem Schoß. Sie lässt sich ungefüllte Sandsäcke aus dem Nachbardorf Zeetze mitbringen, will aber im Ernstfall zu Freunden nach Mecklenburg verschwinden. "Ich bin doch wahrhaftig standfest, aber heute Morgen habe ich einen Weinkoller gekriegt, als ich die Bilder im Fernsehen sah", sagt sie fast entschuldigend. Sie ist in dem Bauernhaus geboren, genauso wie Elisabeth Kröpke, die den neuen Deich vorm Fenster hat.

Stoische Ruhe

"Wir müssen der Realität ins Auge sehen. Es kommt so, wie es kommt. Das hat uns die DDR-Zeit gelehrt", sagt die dreifache Mutter ohne Pathos. Der neue Deich beruhigt sie enorm, auch wenn er noch nicht einmal mit Gras eingesät ist. "Der schwere Lehm wird nicht so schnell aufweichen." Ein paar hundert Meter weiter sind ostfriesische Deichbauer in Tag- und Nachtschichten seit Tagen dabei, eine bis vor kurzem offene Neubaustelle zu schließen. Die Vorgängerfirma, die zunächst wegen ihres günstigsten Angebots den Auftrag hatte, machte pleite. Das kostete viel Zeit beim Neubau, aber im Sommer hat doch niemand mit steigenden Fluten und damit mit einer Gefahr gerechnet ...

Es lässt sich nicht ändern ...

Waltraud Rieken hat trotz ihres schweren Rückenleidens den ganzen Tag ihre eingeweckten Vorräte an Äpfeln, Birnen, Brombeeren, Bohnen und Erbsen aus dem Keller geschleppt. Hilfe hat sie bislang keine bekommen. Ihre Nachbarin Selma Rosteck ist körperlich fit und darum Deichgeschworene in diesem Abschnitt des Neuhäuser Deichverbandes. Sie wird den Wachdienst übernehmen und den Deich, der noch nicht überall erneuert ist, auf Schwachstellen und Bisamratten absuchen. "Als Neunjährige habe ich 1940 erlebt, wie das Hochwasser tagelang über den Deich plätscherte. Angst haben wir nicht gehabt", stellt sie sachlich fest. Erst ihr aus Brandenburg angereister Bruder kann sie überreden, Möbel in die erste Etage zu bringen. "Wenn was passiert, dann ist das Schicksal. Wir Menschen haben den Fluss eingeengt, jetzt will er sich wohl freischwimmen", meint die Witwe Kröpke. (dpa/arn)