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Über Heimat und Zugehörigkeit

Maria Bogdan
23. März 2022

Weil das Wissen über die Historie der Sinti und Roma in ihren Heimatländern fehlt, werden sie als Fremde wahrgenommen. Die eigene Geschichte zu erzählen, ist daher ein Akt der Identitätsfindung. Ein Essay.

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Mann mit Koffer
Bild: Antonio Calanni/dpa/picture alliance

Es ist schwierig für ein Volk, eine Identität zu entwickeln, wenn die Umwelt darauf generell negativ reagiert. Damit sind nicht nur die Worte gemeint, die uns beleidigen und verletzen, sondern auch jene Worte, die fehlen, so dass wir niemals etwas über unsere Geschichte, unsere Literatur und unsere Kultur hören. Ganz so, als wären wir kein Teil davon, als wären wir eine Anomalie, etwas ultimativ Fremdes. Aber sind wir das wirklich?

Einige Künstler*innen, Forscher*innen und Autor*innen aus den Communities der Sinti und Roma haben es geschafft, mit ihren Erzählungen und Recherchen einen Teil der verloren geglaubten Historie wiederzubeleben. Damit zeigen sie eine völlig andere Welt, in der sie Teil der Geschichte sind und eine Rolle einnehmen, die nichts mit den Vorurteilen über sie gemeinsam hat. Diese Welt soll hier anhand zweier Werke aus der Community greifbar gemacht werden: Das Buch "The Stopping Places" (Die Orte der Rast) des britischen Journalisten und Autors Damien Le Bas und der Film "Trapped by Law" des kosovarischen Regisseurs Sami Mustafa.

Atchin tan - Die Orte der Rast 

"Ich werde vielleicht endlich herausfinden, wo ich hingehöre", sagt Damien Le Bas zu Beginn seiner Reise, die sowohl zur körperlichen Herausforderung als auch zur meditativen Erfahrung für ihn wird. Er wandelt auf den Spuren und Rastplätzen seiner Vorfahren, im Besonderen jenen seiner Großmutter, die teilweise noch als Reisende lebte. Dabei folgt er einer geographischen und einer mentalen Karte, die übereinander gelegt ein alternatives Narrativ über die Roma-Community und Großbritannien sichtbar machen, das bis in das 14. Jahrhundert zurückreicht. Diese Geschichte zu erzählen, ist für sich gesehen bereits ein Akt des Empowerments, denn es macht eine Perspektive sichtbar, die lange Zeit gefehlt hat. Eine Perspektive, die zeigt, wie tief verwurzelt die Gypsy Roma and Traveller Communities (GRT) in England tatsächlich sind.

Buchcover "The Stopping Places" von Autor Damien Le Bas
Damien Le Bas: "Wir sind alle irgendwo, sage ich mir"Bild: Damien Le Bas

Neue "Regeln" für die Reisenden

Dennoch ist ihre Art zu leben in der Gegenwart bedroht: Ein neues Gesetz mit dem Titel "Police, Crime, Sentencing Courts Bill, Part 4", das bald beschlossen werden soll, könnte das bisher legale Reisen und Rasten nomadischer Gruppen zu einem kriminellen Akt erklären. Die Strafen würden direkt von der Polizei verhängt werden. Diese reichen von Räumungen über Beschlagnahmung von Fahrzeugen bis hin zu Geldstrafen und Gefängnis.

Plakat "Drive2Survive" Police Support
Drive2Survive: Auch die britische Polizei protestiert gegen das geplante GesetzBild: Drive2Survive

Die Polizei ist jedoch auch gegen das Gesetz und unterstützt die GRT-Communities bei ihrer Kampagne Drive2Survive (Fahren, um zu überleben). Am 19. März 2022 fand erneut eine Demonstration gegen das geplante Gesetz statt, weitere sollen folgen.

Die Protestierenden sehen das Gesetz als eine Verletzung der Menschenrechte, weil es für jene GRT-Communities, die noch reisen, unmöglich werden würde, ihre Kultur und ihre Traditionen zu praktizieren. Vereint mit der Polizei schlagen sie deshalb vor, das Problem durch die Schaffung zusätzlicher Rastplätze für Reisende zu lösen, anstatt durch die Kriminalisierung ihrer Kultur.

Plakat "Drive2Survive" Human Right
Drive2Survive: Das geplante Gesetz wäre eine Verletzung der MenschenrechteBild: Drive2Survive

Zur Protest-Kampagne gehört auch eine TV-Serie des britischen Roma-Journalisten Jake Bowers, die Einblick in die tatsächliche Situation der GRT-Communities in England gibt. Die Serie zeigt deutlich, wie sich das Gesetz auf sie auswirken würde. Mit Kriminalisierung auf die Vielfalt und die Unterschiede zu reagieren würde letztlich zu noch mehr Spannungen und Spaltung in der Gesellschaft führen. Die Roma-Communities würden traumatisiert, denn es würde damit nicht nur ihre ethnische Identität ignoriert, sondern auch ihr Verhältnis zu ihrer Heimat erschüttert.

Die erzwungene Rückkehr der Roma nach Kosovo

Es ist nicht das erste Mal, dass die Politik die Bedürfnisse der Communities außer Acht lässt. Am 14. April 2010 wurde ein Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Kosovo unterzeichnet, das die Rückführung von ausreisepflichtigen Personen aus Kosovo, die sich in Deutschland aufhalten, regelt.

Menschen, die sich bereits ein Leben in Deutschland aufgebaut hatten, nachdem sie vor Jahrzehnten als Geflüchtete ins Land gekommen waren, wurden ohne Ankündigung abgeschoben - wie Kriminelle. Dies betraf auch deren Kinder, die in Deutschland aufgewachsen, ausgebildet und sozialisiert waren. So erging es auch Selamet, der in Deutschland geboren wurde, nachdem seine Eltern in den 1990er Jahren aus dem Kosovo geflüchtet waren, und ebenso seinem damals vierjährigen Bruder Kefaet.

Die Brüder sind außergewöhnlich begabt und heimisch in der deutschen Hip-Hop Kultur, als sie 2010 plötzlich mitten in der Nacht von Uniformierten abgeholt und nach Kosovo deportiert werden - für sie ein völlig fremder Ort. Sie mussten ihr gesamtes Leben hinter sich lassen, als ob sie niemals in Deutschland zu Hause gewesen wären.

Filmposter Trapped By Law von Regisseur Sami Mustafa
Der Regisseur Sami Mustafa (re.) hat die Brüder Selamet (li.o.) und Kefaet nach ihrer Abschiebung begleitetBild: Romawood

Sami Mustafa , ein preisgekrönter Regisseur aus der kosovarischen Roma-Community, erzählt die Geschichte der beiden Brüder in dem Dokumentarfilm "Trapped by Law". Von dem Moment ihrer Ankunft in Kosovo begleitet er sie über einen Zeitraum von fünf Jahren und zeigt, wie sie mit unglaublicher Willenskraft für das Recht auf eine Rückkehr nach Deutschland kämpfen: in ihre Heimat. Ihre Beziehung und Liebe zu dieser Heimat lässt dabei zu keinem Zeitpunkt nach, auch nicht, als sie realisieren, dass sie laut Gesetz für viele Jahre nicht mehr einreisen dürfen. Wenn wir sie später bei ihrer Rückkehr nach Deutschland beobachten, bleibt dennoch ein Beigeschmack der Ungerechtigkeit übrig, denn der vermeintliche Sieg der beiden ist nicht mehr als eine befristete Aufenthaltsgenehmigung.

"Position der Fremden"

Ich hoffe, dass die Geschichte der geflüchteten Roma aus der Ukraine anders verlaufen wird. Doch es gibt bereits Berichte darüber, dass sie an den Grenzen wieder Diskriminierung erfahren, obwohl sie genauso verängstigt sind wie alle anderen Menschen, die aus dem Land fliehen.

Letztlich ist das Ziel dieser Geschichten, zu verändern, wie Roma wahrgenommen und basierend darauf in der Gesellschaft behandelt werden, denn Ausgrenzung, Ignoranz und Diskriminierung prägen ihren Alltag in Europa seit Jahrhunderten. Diese Praxis zeigt deutlich, welche Position den Roma in der Gesellschaft zugewiesen wird. Ich nenne diese in meiner Forschung die "Position der Fremden", denn sie ist gekennzeichnet durch physische und symbolische Distanz.

Dr. Maria Bogdan, Sozialwissenschaftlerin
Die Autorin Maria Bogdan beschäftigt sich in ihren Studien mit der medialen Repräsentation der Roma und RassismusBild: Zoltan Adrian Kepszerkesztoseg

Vermutlich müssten wir viel mehr dieser Geschichten erzählen, um die Aufmerksamkeit darauf zu richten, dass die Kriminalisierung von Herkunft immer noch alltäglich ist. Um jedoch die uns zugewiesene Position der Fremden verlassen zu können, ist die Stärkung der Communities auf ihrem Weg zu einer ausgewogenen und gesunden Identität unerlässlich. Dann hätten wir vielleicht die Chance, eine Gesellschaft aufzubauen, die sich nicht durch Abgrenzung definiert, sondern die seit Jahrhunderten gewachsenen Gemeinsamkeiten anerkennt - und gleichzeitig fähig ist, auch den Unterschieden respektvoll zu begegnen.

Maria Bogdan ist Sozialwissenschaftlerin und Medientheoretikerin. In den letzten Jahren beschäftigt sie sich besonders mit sozialen Medien im Kontext der Roma-Bewegung. 

Dies ist der zweite Essay aus der dreiteiligen Reihe "Stimme der Farbe" über Widerstand, Zugehörigkeit und Resilienz als zentrale Konzepte der Roma-Bewegung. Die Autorin analysiert diese anhand wichtiger Werke aus Kunst und Kultur der Roma-Communities. Die Artikel dieser Serie erscheinen im englischen Original und auf Romanes bei romblog.net

Diese Essayserie von Maria Bogdan  erscheint im Rahmen des NewsSpectrum-Stipendienprogramms, einer Initiative von IPI und MIDAS. ERIAC und DW sind Partner des Programms.