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Die Wunde ihres Lebens

Esther Felden15. Januar 2016

Gerade erst feierten Japan und Südkorea einen Durchbruch im Konflikt um ehemalige Zwangsprostituierte im Zweiten Weltkrieg. Lee Ok-Seon ist eine von ihnen. Sie empfindet die Einigung als Schlag ins Gesicht.

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Lee Ok-Seon in ihrem Zimmer mit einem Buch auf dem Schoß auf dem Bett (Foto: Tsukasa Yajima)
Bild: Tsukasa Yajima

Ohne Eis kann Lee Ok-Seon nicht schlafen. Jeden Abend lutscht sie eins. Nur so kann sie das Brennen kühlen, das sie quält. Seit Jahrzehnten ist es da. "Es brennt im Hals, in der Brust, im Herzen", sagt sie. Medizinische Ursachen habe es nicht. "Es spiegelt einfach nur wieder, wie ich mich fühle. Was da brennt, ist die Wut, die ich in mir trage". Das kalte Eis hat eine beruhigende Wirkung auf sie. Erst, wenn es im Mund geschmolzen ist, hat sie das Gefühl, einschlafen zu können.

Lee Ok-Seon lebt etwas außerhalb von Seoul im "House of Sharing", einem betreuten Wohnprojekt für ehemalige Zwangsprostituierte, die während des Zweiten Weltkrieges in japanischen Militärbordellen anschaffen mussten. Insgesamt zehn alte Damen sind zurzeit dort, viele davon bettlägerig. Die Älteste ist 100 Jahre alt. Lee Ok-Seon selbst ist heute 89. Sie ist über Skype zugeschaltet und wirkt rüstig in ihrer cremefarbenen Bluse und der leuchtend pinken Strickweste. Und kämpferisch. Sie kämpft auch. Bis zum letzten Atemzug, sagt sie. Für Gerechtigkeit und eine persönliche späte Entschuldigung für das, was sie als Teenager in einem japanischen Militärbordell durchleiden musste. "Je älter ich werde, desto mehr Energie habe ich eigentlich", erzählt sie.

Täglich musste Lee unzählige Soldaten bedienen, drei Jahre lang. Sie wurde gequält und zum Geschlechtsverkehr gezwungen. So wie Schätzungen zufolge rund 200.000 andere auch – vor allem Koreanerinnen, aber auch Mädchen und junge Frauen aus China, Malaysia oder den Philippinen. Überall in den damals japanisch besetzten Gebieten betrieb die kaiserliche Armee während des Zweiten Weltkrieges solche Bordelle. Über die Details ihres Martyriums möchte Lee nicht sprechen. "Das war kein Ort für Menschen, das war ein Schlachthof", sagt sie nur. Ihre Stimme klingt hart in diesem Moment.

Eine Frau steht vor einer Wand aus Fotos im House of Sharing, links in der Mitte ist das Bild von Lee Ok-Seon zu sehen (Foto: picture-alliance/AP Photo/A.Young-joon)
m House of Sharing ist auch ein Museum untergebracht, das Besucher aus dem In- und Ausland empfängtBild: picture-alliance/AP Photo/A.Young-joon

Schwieriges Kriegserbe – bis heute

Jahrzehntelang belastete dieses dunkle Kapitel der Vergangenheit die Beziehungen zwischen Japan und Südkorea schwer. Nach dem Krieg war das Thema der verharmlosend als "Trostfrauen" bezeichneten Zwangsprostituierten lange Zeit tabu. Es existierte praktisch nicht. Die Betroffenen schwiegen aus Scham. Erst Anfang der 90er Jahre ging die erste ehemalige Zwangsprostituierte mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit. Andere folgten dem Beispiel. Seit 1992 demonstrieren Betroffene gemeinsam mit Unterstützern Mittwoch für Mittwoch vor der japanischen Botschaft in Seoul, fordern eine offizielle Entschuldigung von Seiten Japans und finanzielle Entschädigung – direkt von der Regierung.

Zwar wurde Mitte der 90er Jahre ein erster Entschädigungsfonds eingerichtet. "Aber das lief quasi über eine private Stiftung", erklärt Reinhard Zöllner, Leiter der Abteilung für Japanologie und Koreanistik an der Universität Bonn. "Da hat nicht die japanische Regierung direkt eingezahlt, sondern Privatleute und japanische Firmen." Auch Entschuldigungen habe es in der Vergangenheit bereits gegeben. "Mehrfach ist es vorgekommen, dass Ministerpräsidenten aus verschiedenen politischen Lagern um Entschuldigung gebeten haben." Allerdings seien diese Entschuldigungen meist unpersönlich gewesen und hätten sich "ganz allgemein als Erklärungen auf Pressekonferenzen oder ähnlichem abgespielt".

Lee Ok-Seon und andere ehemalige Zwangsprostituierte mit Plakaten bei einer Demonstration vor der japanischen Botschaft in Seoul (Foto: Tsukasa Yajima)
Früher nahm auch Lee Ok-Seon (Mitte) regelmäßig an den Mittwochs-Demonstrationen teil – heute schafft sie es aus gesundheitlichen Gründen kaum nochBild: Tsukasa Yajima

Offizielle Beilegung des Konflikts mehr als 70 Jahre nach Kriegsende

Vor wenigen Wochen dann - am 28. Dezember 2015 - vermeldeten Seoul und Tokio überraschend, dass beide Seiten den Konflikt endgültig beilegen wollten. Man habe sich auf die Einrichtung eines Fonds zur Unterstützung der Opfer geeinigt, in den Japan umgerechnet 7,6 Millionen Euro einzahlen werde. Außerdem gab es ein für beide Seiten politisch und symbolisch wichtiges Telefongespräch zwischen Japans Regierungschef Shinzo Abe und der südkoreanischen Präsidentin Park Geun-Hye, so Zöllner. "Abe hat in seiner Rolle als japanischer Ministerpräsident - so heißt es wörtlich - allen Personen gegenüber, die als Trostfrauen viele Leiden und Schmerzen erfuhren und an Leib und Seele schwer heilbare Wunden davontrugen, von ganzem Herzen um Entschuldigung gebeten."

Der Zeitpunkt der Einigung kam für Zöllner nicht überraschend, sondern hat einen ganz konkreten Grund. "Beiden Regierungen war es wichtig, diese Frage noch im Jahr 2015 zu regeln. Das war der 50. Jahrestag des Normalisierungsvertrages zwischen Japan und Südkorea." Dieser Vertrag war 20 Jahre nach Kriegsende der Meilenstein, um zwischen Japan und seiner ehemaligen Kolonie Korea wieder geregelte Beziehungen herzustellen.

Die jetzt erzielte Lösung sei aus japanischer Sicht preisgünstig gewesen, meint Reinhard Zöllner. "Es geht hier um weniger als zehn Millionen Euro. Das ist sehr wenig im Vergleich mit den Aufwendungen, die Deutschland etwa für die ehemaligen Zwangsarbeiter aufgebracht hat." Dennoch könne auch die koreanische Seite von einem Erfolg sprechen. "Südkorea war es - unabhängig von der Höhe der Zahlung - wichtig, dass das Geld direkt aus dem japanischen Staatshaushalt kommt. Und das ist nun zum ersten Mal der Fall."

Der japanische Außenminister Fumio Kishida (links) am 28. Dezember 2015 gemeinsam mit seinem südkoreanischen Amtskollegen Yun Byung-Se in Seoul beim Handshake vor den Flaggen beider Länder (Foto: picture-alliance/dpa/K.Min-Hee)
er japanische Außenminister Fumio Kishida (links) am 28. Dezember 2015 gemeinsam mit seinem südkoreanischen Amtskollegen Yun Byung-Se in Seoul – kurz danach wurde die Einigung zwischen beiden Ländern bekanntBild: picture-alliance/dpa/K.Min-Hee

Einigung an den Betroffenen vorbei

Das sehen die Betroffenen anders. Auch Lee Ok-Seon. Sie empfindet die Einigung als Schlag ins Gesicht. "Ich bin von Präsidentin Park sehr enttäuscht, weil sie nicht für uns Stellung bezogen und sich auf eine so geringe Entschädigungssumme eingelassen hat." Lee fühlt sich von ihrer Regierung im Stich gelassen. Und sie klagt an, dass die wenigen noch lebenden Frauen überhaupt nicht in die Beratungen mit einbezogen wurden. "Niemand hat je mit uns gesprochen. Wenn ich könnte, würde ich dem japanischen Ministerpräsidenten selbst erzählen, was ich durchgemacht habe. Und ihm sagen, dass ich mir eine persönliche Entschuldigung wünsche." Für sie und die anderen jedenfalls geht der Kampf weiter.

Auch die südkoreanischen Medien seien von dem schnellen Durchbruch zwischen Seoul und Tokio überrascht worden, berichtet Reinhard Zöllner von der Uni Bonn. "Die zivilgesellschaftlichen Akteure und auch die Presse in Südkorea kritisieren überwiegend, dass die Regierung bei den Verhandlungen die betroffenen Frauen selbst außen vor gelassen hat." Man habe praktisch eine fertige Einigung präsentiert. "Die Betroffenen und ihre Interessenvertreter hätten gern eine offen ausgehandelte Lösung erreicht. Das ist jetzt quasi ausgeschlossen."

Denn diplomatisch sei die schwierige Frage der Zwangsprostitution damit geklärt. "Eigentlich kann die südkoreanische Regierung nun von Japan nichts weiter verlangen. Auf der anderen Seite kann die japanische Regierung auch nicht mehr zurück hinter das, was jetzt erklärt wurde." Für viele der Betroffenen kommt die Einigung ohnehin zu spät. Nur 46 der ehemaligen Zwangsprostituierten sind heute noch am Leben. Ein Leben, das vor mehr als 70 Jahren eigentlich stehen blieb.

Shinzo Abe und Park Geun-Hye beim Handschlag vor den beiden Landesflaggen (Foto: Reuters/Yonhap/L. Jung-hoon)
Wenige Wochen vor der Einigung hatten sich Shinzo Abe und Park Geun-Hye Anfang November zu einem bilateralen Gipfel in Seoul getroffenBild: Reuters/Yonhap/L. Jung-hoon

Eine Jugend in der Hölle

So wie auch das von Lee Ok-Seon. Sie war war gerade 14 an dem Tag, der alles veränderte. Auf offener Straße wurde sie in ein Fahrzeug gezerrt und in eine japanische "Troststation" im Nordwesten Chinas verschleppt. Viele der Mädchen, die dort anschaffen gehen mussten, überlebten die Qualen nicht. Man geht davon aus, dass zwei Drittel aller Zwangsprostituierten noch vor Kriegsende starben - oder sich aus Verzweiflung das Leben nahmen. Auch Lee kennt den Gedanken, hatte ihn selbst. Aber sie schreckte letztendlich vor dem Schritt zurück, sich selbst zu töten. Nach Kriegsende blieb sie in China. Zurück in die Heimat wollte sie nicht, weil sie sich selbst vor ihren engsten Angehörigen schämte und ihrer Familie die Schande ersparen wollte. Sie heirate einen koreanisch-stämmigen Mann und zog an Stelle seiner verstorbenen Ex-Frau die beiden Kinder groß.

Erst nach seinem Tod im Jahr 2000 ging sie wieder zurück nach Südkorea. Im "House of Sharing" hat sie gute Freunde gefunden, eine Art Familie. Und eine Schicksalsgemeinschaft. Sie fühle sich dort wohl und glücklich. Und sie habe wieder erfahren, was Liebe bedeutet, sagt sie. Auch durch die Kinder ihres Mannes. Besonders stolz ist sie heute auf "ihre" zwei Enkelkinder. Sie strahlt, wenn sie von ihnen erzählt. "Der eine war so gut in der Schule und in Englisch, dass er in den USA hätte studieren können. Aber er wollte nicht. Jetzt ist er in China bei einer Firma, hat eine gute Position."

Pass-Foto der jugendlichen Lee Ok-Seon (Foto: privat)
Lee Ok-Seon auf ihrem alten Pass – jahrzehntelang besaß sie keinen, erst seit ihrer Rückkehr nach Südkorea hat sie wieder einen AusweisBild: Tsukasa Yajima

Eigene Kinder hat Lee Ok-Seon nicht - auch das eine Folge ihrer Zeit als Zwangsprostituierte. Immer wieder infizierte sie sich damals mit diversen Geschlechtskrankheiten. Nach Kriegsende ging es ihr gesundheitlich so schlecht, dass ihre Gebärmutter entfernt werden musste. Diese Narbe ist bis heute sichtbar, die seelischen nicht. Aber sie sind da. "Für mich und die anderen Frauen dauert der Krieg bis heute an. Diese Wunde wird niemals heilen." Da hilft auch das Eis nichts, das sie jeden Abend vor dem Schlafen gehen lutscht.