Duell gegen Real: Narben bei Liverpool-Fans
21. Februar 2023Es gibt eine Reihe von Momentaufnahmen, die Ted Morris durch den Kopf gehen, wenn er an das letztjährige Champions-League-Finale denkt. Allerdings handelt es sich dabei nicht um die Rettungstaten von Real-Torhüter Thibault Courtois oder an den Siegtreffer von Vinicius Junior für Madrid. Morris kann sich an kaum etwas von dem erinnern, das auf dem Spielfeld passierte. Stattdessen hat der Vorsitzende der "Liverpool Disabled Supporters Association" das Bild eines jungen Mädchens am Bahnhof vor Augen, tränenüberströmt nach einem unprovozierten Tränengasangriff. Er erinnert sich auch an die Angst, die er um seine Töchter hatte, die in einem anderen Teil des Stadions saßen als er - und an seine eigene Furcht, in den Straßen von Saint Denis am Rande von Paris zu sterben.
Todesangst bei Liverpooler Fans
Er habe noch nie einen solchen Mangel an Polizei bei einem Spiel erlebt, sagt Morris, der überall in Europa mehr als hundert Partien besucht hat. Den Preis für die Versäumnisse der Sicherheitskräfte zahlten in der Finalnacht von Paris die Liverpooler, als sie sich auf den Weg vom Stadion zum Bahnhof machten, während die Fans von Real Madrid noch den Sieg feierten und ihren Helden dabei zusahen, wie sie die Trophäe in die Höhe stemmten. Morris und viele andere Liverpooler Fans berichteten, dass sie von örtlichen Banden angegriffen wurden. Die Behörden hatten unfreiwillig den Zugang zum Stadion ermöglicht, weil sie - um das Gedränge zu lindern, das vor dem Finale an einigen Eingängen entstanden war - die Kontrollen an der Absperrung zum Umfeld des Stadions gelockert hatten. So konnten die Angreifer die herausströmenden Fans abfangen, griffen sie mit Fäusten an, teilweise aber auch mit Messern und Flaschen, und raubten eine beträchtliche Anzahl von ihnen aus.
"Ich hatte schreckliche Angst. Ich wusste nicht, wer sie waren, bis wir sie kommen sahen, und dann waren es offensichtlich die Einheimischen, die uns angriffen", berichtet Morris der DW. "Wir dachten, wir wären in Sicherheit, als wir zum Bahnhof kamen. Aber das war nicht der Fall. Wir waren durch die Polizei genauso in Gefahr wie durch sie [die Angreifer - Anm. d. Red.]." Weil Ted Morris im Rollstuhl sitzt, war es für ihn besonders schwer, im Gedränge und bei den Tumulten rund um das Stade de France zurechtzukommen. Zur Sorge um die eigene Sicherheit kamen Gedanken, dass er mit seinem Rollstuhl ein Hindernis darstellen und dadurch andere in Gefahr bringen könnte. "Ich habe das eine Zeit lang mit mir herumgetragen und gedacht: 'Ich hätte Leute umbringen können.'", sagt Morris. "Und ich selbst hätte auch einfach sterben können. Es wäre katastrophal gewesen."
Falsche Behauptungen der UEFA
Die Übergriffe gegen Ted Morris und andere Liverpooler Anhänger ereigneten sich am Ende eines Tages, der für Tausende von ihnen traumatisch bleibt. Die Schuld für die Vorkommnisse - der Stau vor den Eingängen, das dadurch entstandene Chaos und die mehrfache Verschiebung des Anpfiffs - schob man zunächst den Anhängern aus England zu. Als die UEFA dann aber feststellte, dass die Berichte von Journalisten und Fans in den sozialen Medien dies eindeutig widerlegten, gab sie Sicherheitsprobleme als Grund an. Zudem verwies der Verband fälschlicherweise darauf, dass bis zu 40.000 Liverpooler Fans versucht hätten, sich ohne Eintrittskarten oder mithilfe gefälschter Tickets Zugang zum Stadion zu verschaffen. Auch diese Behauptung erwies sich als haltlos.
In einem Bericht, den die UEFA beauftragt hatte und der erst vor einigen Tagen erschien, wurde dem Verband die "Hauptverantwortung" für die chaotischen Szenen vor, nach und während des Spiels gegeben. Der Bericht stellte außerdem fest, dass die französische Polizei "ein Modell gewählt hat, das auf eine nicht existierende Bedrohung durch Fußball-Hooligans abzielt" und dass der französische Fußballverband es versäumt habe, "eine effektive Kooperation mit mehreren Partnern herzustellen, einschließlich der Verkehrsbetriebe, der Polizeipräfektur, dem Stade de France und der UEFA".
UEFA wusste von Sicherheitslücken
Außerdem wurden die Liverpooler Fans in dem Bericht von jeglicher Verantwortung für zahlreiche Fälle von Gewalt und Zusammenstößen an den Toren und Kontrollpunkten, teilweise mit Tränengaseinsatz, freigesprochen. Für Morris und Joe Blott, den Vorsitzenden der Liverpool Fan-Vereinigung "Spirit of Shankly", waren die Ergebnisse des Berichts keine große Überraschung. Die beiden hatten die Fans kurz nach dem Endspiel bei einer Anhörung im französischen Senat vertreten und sich seitdem dafür eingesetzt, dass die Liverpooler Anhänger nicht zu Unrecht beschuldigt wurden, wie es bei der Katastrophe im Hillsborough-Stadion vor 34 Jahren der Fall war.
Der Bericht weist auch darauf hin, dass die UEFA mehr als fünf Stunden vor dem Anpfiff wusste, dass es Probleme mit der Sicherheit gab, aber nicht gehandelt hat. Blott glaubt, dass die Sicherheit der Fans an diesem Abend nicht einmal annähernd oben auf der Prioritätenliste der UEFA stand. Ein Vorwurf, der auch nach dem letztjährigen Finale der Europa League und dem Finale der Euro 2020 in Wembley erhoben wurde. "Ich denke, dass sie die Veranstaltung selbst über die Sicherheit gestellt haben, weil sie wollten, dass sie als Vorzeige-Event für ihre Würdenträger, VIPs und Firmengastfreundschaft gesehen wird. Es ist schockierend", klagt Blott gegenüber der DW an. Er sei "hocherfreut" gewesen, dass der Bericht die Fans von jeglichem Fehlverhalten freisprach.
Bittere Erinnerungen an Hillsborough
Die sofortige Beschuldigung der Fans durch die Behörden ohne jeden Beweis ist Liverpool-Fans wie Blott und Morris nur allzu vertraut. Die Katastrophe im Hillsborough-Stadion von Sheffield im April 1989, die insgesamt 97 Todesopfer forderte, folgte einem ähnlichen Narrativ. Damals schoben Medien und Behörden den Liverpooler Anhängern die Verantwortung zu. Erst Jahrzehnte später entlastete eine Untersuchung die Fans und stellte fest, dass Polizei und Sicherheitskräfte versagt hatten.
"Aus Gesprächen mit Kollegen von der Hillsborough Survivors Association wissen wir, dass der Mai letzten Jahres für die Überlebenden von Hillsborough ein großer Schock war", auch wenn sie gar nicht dabei gewesen seien, sagt Joe Blott der DW: "Alleine der Anblick der Fotos von zusammengedrängten Menschen, das Tränengas, der Lärm. All das bringt schreckliche Erinnerungen zurück." Viele Fans sind skeptisch, ob die UEFA ihre eigenen Empfehlungen künftig tatsächlich umsetzen kann, auch wenn sie einräumt, dass "eine Katastrophe mit Massensterben", für die sie "die Hauptverantwortung" trage, nur knapp vermieden wurde.
"Die Narben sind tief, und auch das Trauma sitzt tief. Das wird noch lange Zeit so bleiben", sagt Ted Morris, der selbst in Hillsborough einen 15-jährigen Cousin verlor. "Es gibt Leute, die mir gesagt haben: 'Das war's!' Sie sind fertig. Sie werden nie wieder hingehen. Du kannst nicht zu einem Fußballspiel gehen, wenn du fürchten musst, dass dein Leben in Gefahr ist."
Der Text wurde aus dem Englischen adaptiert.