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DVD-Tipp: Mythos Godard

Jochen Kürten
28. Mai 2010

Er ist der Narr des europäischen Kinos. Wohl kein anderer Filmemacher ist seinen Wurzeln so treu geblieben. Das hat ihm viel Bewunderung eingetragen. Gleichzeitig werden seine neuen Filme nur noch auf Festivals gezeigt.

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Anna Karenina in Film "Made in USA" (Foto: Kinowelt/Arthaus)
"Made in U.S.A."Bild: Kinowelt/Arthaus

Jean-Luc Godard wird in diesem Jahr 80 Jahre alt. Und noch immer dreht er Filme. Das ist bewundernswert. Seine neueste Arbeit lief gerade noch bei den Filmfestspielen in Cannes. In der Reihe "Un certain Regard" wurde "Film Socialisme" gezeigt, ein schon gewohntes Godardsches Filmpuzzle mit Gedankenketten, filmischen Assoziationen, Musikeinsprengseln, Zwischentiteln und allerlei Zitaten. Godard, das war einmal Avantgarde, in den 1960er und vielleicht auch noch einmal in den 80er Jahren, als er erst die Nouvelle Vague mitgestaltete und später noch einmal daran anknüpfte.

Ein paar Jahrzehnte später lohnt also ein Blick auf dieses frühe und mittlere Werk, eine Box mit 10 Filmen gibt nun Gelegenheit dazu. Die ganz großen Klassiker sind dabei, "Außer Atem" und "Die Verachtung", eminent politisches und ein paar Filme aus der Phase, als sich der Meister Anfang der 80er Jahre wieder zurückmeldete auf der großen Leinwand nach Jahren des Experimentierens mit anderen Filmformaten und Video.

"Der kleine Soldat" (1960)

Direkt nach seinem Jahrhundertwerk "Außer Atem" drehte Godard damals diesen Film zum Thema Algerien. Das war radikal und hochpolitisch - gerade noch erinnerten zwei Filme im Wettbewerb in Cannes an dieses französische Trauma und riefen zum Teil starke Proteste hervor. "Der kleine Soldat" ist im Vergleich zum späteren Godard fast linear erzählt, aber immer noch viel komplexer und vielschichtiger als die allermeisten "politischen" Filme damals und heute. Wie bei jedem Film des Franzosen fällt es schwer die Handlung nachzuerzählen. Im Mittelpunkt steht ein Agent der rechtsextremen OAS (die Untergrundorganisation aus der Endphase des Algerien-Kriegs), der in Genf den Auftrag erhält einen frankreichkritischen Radiomoderator zu liquidieren.

Mann mit einer Hand vor dem rechten Auge blickt in Kamera - Szene aus Jean-Luc Godards "Der kleine Soldat" (Foto: Kinowelt/Arthaus)
Auf einem Auge blind? - Godards Blick auf den französischen Algerien-Konflikt in "Der kleine Soldat"Bild: Kinowelt/Arthaus

Was folgt ist eine Odyssee durch die schweizerische Stadt und die Begegnung mit verschiedenen politischen Akteuren, der Flirt mit einer Frau, Diskussionen, Gewalt und Folter, letzteres in der nüchternen Betrachtung Godards bis zur Schmerzgrenze inszeniert. Schon in diesem Frühwerk fiel auf, wie der Regisseur sich mit allen Fasern seines filmischen Herzens den Konventionen des Kinos entgegenstellte. Kein Gut und Böse, keine durchgehende narrative Handlung, immer wieder (verwirrende) Einschübe, Musik- und Textpassagen, die sich scheinbar im Nichts verlieren. Und doch fällt in der Rückschau auf: als geübter Kinogänger kann man noch folgen, sich dem subjektiven (Gedanken-)film des Regisseurs mit Gewinn aussetzen. Man ahnt, um was es Godard vor allem ging: dem Zuschauer permanent vor Augen zu halten, dass jedes Ding auf der Welt (mindestens) von zwei Seiten betrachtet werden kann.

Made in U.S.A. (1966)

Sechs Jahre später hatte Godard schon die meisten Taue zum Kino seiner Nouvelle Vague-Kollegen gekappt. Und seine Filme begannen krakenhaft zu werden. Von einer herkömmlichen Story konnte keine Rede mehr sein. Wir sehen: eine Frau (Anna Karina) auf der Suche nach ihrem (inzwischen ermordeten) Verlobten. Die Figuren des Films tragen die Namen großer amerikanischer Regisseure - ein Schlüssel zum Verständnis des Godardschen Werks. Wie die anderen französischen Regisseure seiner Generation bewunderte er die Meister des amerikanischen Genrekinos. Und doch war ihm eines von Anfang an klar - so wie Sam Fuller und Robert Aldrich, wie Alfred Hitchcock und Howard Hawks konnte und wollte er nicht drehen.

Frau schlafend mit Buch auf der Brust - Filmszene aus Jean-Luc Godards "Made in USA" (Foto: Kinowelt/Arthaus)
Vom Kino träumen - Anna Karina liest Jean Vautrins "Adieu la vie, adieu l´amour"Bild: Kinowelt/Arthaus

Und so sind Filme wie "Made in U.S.A." seltsame Hybridwesen aus einem Zwischenreich des Kinos: Eine Hommage an Hollywood und gleichzeitig eine scharfe Abkehr vom US-Kino mit all seinen vorhersehbaren dramaturgischen Spannungsbögen, radikal subjektives Autorenkino, aufgepumpt mit politischen, literarischen und philosophischen Anspielungen. Noch heute betörend: die unglaublichen Bilder seines damaligen Stammkameramannes Raoul Coutard. Ein Bilderrausch aus Farben und Einstellungen, die Anna Karina immer wieder in ein wunderschönes Licht rücken. Auf dieser Ebene ist "Made in U.S.A." sehr modern geblieben.

Vorname Carmen (1983)

Drei Jahre nach seinem Kinocomeback gedreht, ist dieser Film ein typisches Beispiel für den "mittleren" Godard. "Vorname Carmen" ist ein filmisches Puzzle, dem der Zuschauer eigentlich nicht mehr folgen kann. Es sind ein halbes Dutzend verschiedene Filme, die hier aufeinandergeschichtet sind: Bizets Oper ist nur einer davon. Die ersten zehn Minuten erzählen viel über Godard, über die Größe dieses Filmemachers, auch über sein tragisches Scheitern. Godard spielt sich selbst, sitzt ein wenig traurig und orientierungslos im Schlafanzug und mit der obligatorischen dicken Zigarre ausgestattet in einem Sanatorium, sinniert über den Lauf der Welt, hört klassische Musik, beleidigt das Krankenhaus-Personal und unterhält sich mit Carmen, der erwachsenen Nichte.

Frau schlafend von oben - Filmszene aus Jean-Luc Godards "Vorname Carmen" (Foto: Kinowelt/Arthaus)
Carmen, schlafend - Maruschka Detmers in "Vorname Carmen"Bild: Kinowelt/Arthaus

Carmen (die blutjunge Maruschka Detmers) will in der leer stehenden Wohnung des Onkels in Trouville einen Film drehen: "Hast Du nicht Lust wieder Filme zu machen Onkel Jean?", fragt sie Godard, worauf dieser die vieldeutige Antwort gibt: "Man muss die Augen schließen, anstatt sie aufzumachen" um sich anschließend wieder den Kassettenrecorder ans Ohr zu drücken. Wenn man bedenkt, dass Godard auch heute noch, fast 30 Jahre später, ähnlich verzweifelt gegen die Konventionen des Kinos anrennt, zurückgezogen in seiner Genfer Wohnung lebt, nur selten Interviews gibt, dann scheint sich nicht viel verändert zu haben. Ist das nun Stillstand eines verknöcherten, alten Sturkopfs? Oder die ungebrochene, standhafte Konsequenz eines Genies? Das mag jeder selbst entscheiden. Es lohnt aber auf jeden Fall, sich immer wieder mit den Filmen dieser rätselhaften Sphinx des europäischen Kinos zu beschäftigen.

Außer den erwähnten Filmen sind noch "Alphaville", "Detektive", "Eine Frau ist eine Frau", "Elf Uhr Nachts" und "Passion" in der Box, zwei Kurzfilme über die Dreharbeiten zu "Die Verachtung" sowie zahlreiche Trailer und Fotogalerien. Jean-Luc Godard-Edition im Schuber, 10 DVDs, Kinowelt/Arthaus.

Autor: Jochen Kürten

Redaktion: Conny Paul