Ein Gastarbeitermärchen
9. November 2009Jeden Morgen um 6.30 Uhr klingelt sein Wecker. Dann übt Hoang Quang eine Stunde lang den "Tiger" im Innenhof. Kurz und kraftvoll stößt er beide Hände in die Luft, die Finger wie Krallen gekrümmt. Hoang ist Großmeister im vietnamesischen "Nam Hong Son"-Kung Fu. Kung Fu ist für ihn Lebensphilosophie, Lebensversicherung und Sport - und zwar genau in dieser Reihenfolge.
DDR-Arbeiter mit "sozialistischen Brüdern" ersetzt
Hoang Quang ist 57 Jahre alt. Er ist einer von rund 60.000 vietnamesischen Vertragsarbeitern, die vor der Wende in die DDR kamen. Denn die DDR brauchte Arbeiter, dringend. Schließlich hatten zwischen 1949 und 1961 fast drei Millionen Menschen die DDR verlassen. Nun sollen billige Arbeitskräfte aus "sozialistischen Bruderländern" die ostdeutsche Planwirtschaft stützen. Mehr als die Hälfte dieser Vertragsarbeiter kam aus Vietnam.
An den 31. Juli 1987, das Datum seiner Ankunft in Leipzig, erinnert sich Hoang Quang noch genau. "Es war warm, aber nicht so warm wie in Vietnam", sagt er. Er spricht in abgehackten Sätzen. Häufig fehlt die Wortendung. Das "s" auszusprechen, fällt ihm besonders schwer. Den Kampf gegen die deutsche Sprache führt er bis heute.
Vom Mathematiker zum Gruppenleiter
Der Duft von vietnamesischem Kaffee liegt in der Luft. Hoang sitzt in seinem Textilgeschäft hinter einem kleinen Tisch, auf dem eine Kasse und eine Nähmaschine stehen. Auf seinem Schoß liegt aufgeschlagen die "Bild"-Zeitung. Kleidung, Deckenlampen und Parfüms verkauft er in seinem Laden. Als ein Kunde den Laden betritt, springt Hoang auf: "Kann ich helfen?"
In Hanoi hat Hoang vier Jahre lang Mathematik und Informatik studiert. Nach seiner Ankunft in Leipzig arbeitete er als Gruppenleiter beim VEB Bekleidungswerk "vestis". Rund 260 Mitarbeiter unterstanden ihm dort. Hoang koordinierte die Arbeitsabläufe zwischen vier Werken des Betriebes mit Hilfe von Dolmetschern.
Vom Gruppenleiter zum Marktverkäufer
Die Tür geht auf und Hoangs Sohn Viet betritt das Geschäft. Er trägt eine Jogginghose und eine Lederjacke. In seinem linken Ohr blinkt ein Ohrring. Viet stellt sich neben seinen Vater, den er um einen halben Kopf überragt. "Ohne Verwandte wäre ich damals nicht ausgewandert", sagt er. Fünfmal die Woche trainiert Viet für den Fußballverein "RB Leipzig". "Nach dem Abitur möchte ich Informatik studieren", sagt er. Sein Vater lächelt.
Anfang der neunziger Jahre verkaufte Hoang Quang Kleidung und Textilien auf dem Bayerischen Platz in Leipzig. "Bei Kälte wie bei Regen", sagt er. Neben Indern und Pakistanern baute Hoang mit seiner Frau den Stand auf - und abends wieder ab. Acht Jahre lang.
An einem Tag im Jahr 1991 nähern sich rund zwanzig Skinheads seinem Verkaufsstand. Mit Gaspistolen, Messern und leeren Bierflaschen bedrohen sie ihn. "Ausländer raus, Ausländer raus", grölen die glatzköpfigen Männer. Geld und Waren wollen sie. Doch der Kung-Fu-Meister weiß sich zu wehren. "Angst hatte ich nicht", sagt er. Mit einem Nuntschatku, einer asiatischen Kampfsportwaffe, hält er die Skinheads in Schach bis die Polizei eintrifft. Als sie endlich kommt, ist kein Skinhead mehr zu sehen. "Die Polizei hat nur meine Daten aufgenommen", erinnert er sich heute. Das Verfahren wurde wenige Tage später eingestellt.
Vom Marktstand zum eigenen Laden
Erst 1998 erhielt Hoang mit seiner Familie eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung und konnte sein Textilgeschäft eröffnen. "Der eigene Laden bedeutet mir sehr viel", sagt er. Noch wichtiger ist ihm nur seine Kung-Fu-Schule.
Nach einer Stunde Training wischen sich die Schüler den Schweiß von der Stirn. Einer von ihnen scheitert zum wiederholten Mal an einer Figur und flucht. Als Hoang dies bemerkt, holt er ihn in die Mitte, klopft ihm auf die Schulter und sagt ihm jene zwei Worte, die sein eigenes Leben zusammenfassen: "Nicht aufgeben!"
Autor: Patricio Farrell
Redaktion: Miriam Klaussner